Die Inayatiyya, vormals Sufi Order International, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Inder Hazrat Inayat Khan in den USA und Europa begründet (inayatiyya.org; inayatiyya.at). Warum mir gerade dieser Orden so sympathisch ist, hat mit seiner Offenheit zu tun. Einerseits sind - aufgrund der indischen Wurzeln - einige yogische und buddhistische Elemente in diese Sufi-Linie eingeflossen, vor allem in diversen Atemübungen und Meditationspraktiken. Auf der anderen Seite hat Hazrat Inayat Khan, obwohl selbst bekennender Muslim, von Anfang an die Gleichrangigkeit aller Konfessionen und Glaubensrichtungen betont. Dies findet Ausdruck im Ritual des Universellen Gottesdienstes, bei dem alle größeren Religionen zu Wort kommen.
Was ist Sufismus?
Der Ausdruck “Sufi” wird in der Regel von arabisch suf, "Wolle" abgleitet und als Anspielung auf die wollene Kleidung vieler MystikerInnen verstanden. Diese Kleidung ist Zeichen für ein einfaches Leben, das frei ist von Anhaftungen an irdische Güter. Die Wolle wird aber auch als Symbol für die prima materia verstanden, also das Rohmaterial, aus dem sich alles Leben geformt hat und das es zu transformieren gilt (siehe z. Bp. Muhammad ibn Umail in seinem Werk Hall ar-Rumuz, 'Klärung von Mysterien').
Andere Interpreten versuchen den Begriff mit arabisch safa, 'Reinheit', in Zusammenhang zu bringen.
Viele der Übungen im Sufismus zielen auf die Entwicklung der Liebesfähigkeit und die Öffnung des Herzchakras ab. Es geht darum, unser wahres Wesen zu entdecken und zu entfalten und dieses dann auch im Alltag zu verwirklichen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Transformation der Nafs, ein Begriff, der soviel wie 'Seele' oder 'Atem' bedeutet, hier aber am besten mit 'Ego' übersetzt wird. Dieses Ego gilt es zu verfeinern und weiterzuentwickeln, bis der reflexhafte und engstirnige Egoismus einem tiefen Erkennen und Verstehen weicht und wir fähig werden, uns selbst, die anderen und die Welt als Ganzes vorbehaltlos zu lieben. Dann wird die Nafs, die zuerst Ego ist, ganz Seele.
Im Allgemeinen wird Sufismus als der mystische Zweig des Islam gesehen. Doch Mystik ist das Gegenteil von Dogma. Mystik bedeutet inneres Erleben, bedeutet die Suche nach Wahrheit und Selbsterkenntnis, bedeutet unorthodoxe und unbequeme Fragen zu stellen. In einigen islamischen Ländern sind die Sufis deshalb unerwünscht oder werden sogar verfolgt.
Sufis waren auch seit jeher offen für andere Religionen. Sufimeister wie Shihabuddin Suhrawardi vertraten bereits im 12. Jahrhundert die Idee, dass hinter den verschiedenen Offenbarungen der Religionen ein universelles Wissen über die allen Dingen innewohnende Einheit steht.
Der Korrektheit halber sollte hier allerdings angeführt werden, dass es leider auch unter den Sufis die eine oder andere engstirnige und intolerante Gruppierung gibt. Der jüdische Mystiker Friedrich Weinreb sagte einmal sinngemäß, dass unter spirituell orientierten Menschen genauso viele Gute und Schlechte zu finden sind wie in jeder anderen menschlichen Gruppierung. Ich denke, dass uns diese Erkenntnis hilft, unsere eigenen Grenzen anzuerkennen und uns nicht besser als andere zu fühlen. Hazrat Inayat Khan sagt, dass letztlich JEDER Weg zu dem einen Ziel führt. Doch es mag schöner und erfüllender sein, und auch effektiver, diesen Weg mit offenem Herzen zu gehen.
Hazrat Inayat Khan und die Rolle der Frauen
Hazrat Inayat Khan (HIK) steht jedenfalls ganz in der Sufi-Tradition der Weltoffenheit und Toleranz. Anfang des vorigen Jahrhunderts führte er in seinem Sufiorden zwei Dinge ein, die für die damalige Zeit außergewöhnlich waren, schreibt Andrew Rawlinson (den Artikel finden Sie hier). Er machte den Sufismus unabhängig vom Islam, und er erhob Frauen - westliche Frauen - in höchste Positionen. Dadurch wurde das Sufi Movement, wie der von HIK begründete Orden usprünglich hieß, zu einer sehr westlich geprägten Organisation.
HIKs erste Schülerin, die ihm 1910 gleich nach seiner Ankunft in den USA begegnete, war Rabia Martin. Und er ernannte sie zwei Jahre später zur Murshida, das ist die höchste Position unter dem Pir oder Leiter des Ordens. Auch in Europa waren es ausschließlich Frauen, die er in den Rang von Murshidas erhob (Lucy Sharifa Goodenough, Sophia Saintsbury Green, Fazal Mai Egeling; lesen Sie hier mehr über diese Frauen).
Doch als es nach seinem frühen Tod am 5. Februar 1927 um die Nachfolge ging, hatten die Frauen das Nachsehen. Murshida Martin, die einst einen Brief von HIK erhalten hatte mit der Bitte, nach seinem Tod „to attend to my affairs in the West“, also sich um seine Angelegenheiten im Westen zu kümmern, reiste damals unschuldig ins Headquarter des Sufi Movement in Genf, in der Erwartung, dort die Führungsrolle zu übernehmen. Doch sie wurde abgelehnt, und HIKs Bruder Maheboob Khan übernahm diese Position.
Martin ging daraufhin ihre eigenen Wege. Einer ihrer Schüler, Samuel Lewis, der 1923 persönlich von HIK initiiert worden war, begründete später den Sufiorden der Ruhaniat.
Pir Vilayat Inayat Khan
Es scheint HIKs Strategie gewesen zu sein, gleich mehrere 'Hüter der Botschaft' zu ernennen. Doch als Nachfolger hatte er seinen älteren Sohn Vilayat bestimmt. Als auch Vilayat die Führungsposition im Sufi Movement verweigert wurde, gründete er 1957 die Sufi Order International.
Damit gibt es heute drei Hauptzweige der Inayati-Linie. Seit einer offiziellen Versöhnung im Jahr 2006 arbeiten Sufi Order und Ruhaniat sehr eng zusammen. Auch das Verhältnis zum Sufi Movement hat sich entspannt. Und die unterschiedlichen Schwerpunkte, die sich in diesen verschiedenen Orden entwickelt haben, befruchten einander heute gegenseitig.
Schade, dass Pir Vilayat diese Versöhnung nicht mehr miterleben konnte. Er litt Zeit seines Lebens unter diesen Querelen. Doch vielleicht machte ihn gerade das zu einem der ungewöhnlichsten und beeindruckendsten spirituellen Lehrer. Er versuchte erst gar nicht, sich anderen als perfekt und unfehlbar darzustellen. Er war direkt, authentisch, bescheiden. Sein Weltbild war offen. Er knüpfte Kontakte zu Gleichgesinnten in den verschiedensten Religionen, interessierte sich für die Verbindung von Mystik und Wissenschaft. Vor allem aber strahlte er so wie sein Vater eine große Herzenswärme und Liebe zu den Mitmenschen aus. Näheres erfahren Sie in diesem Porträt über Pir Vilayat.