Träume – das Tor zur Seele

 

"Wir müssen das große Potenzial erkennen, das der Traum für die spirituelle Reise beinhaltet."

Tenzin Wangyal Rinpoche

 

Träume haben die Menschheit immer schon fasziniert. Denn im Schlaf streift unser Bewusstsein die Fesseln ab, die wir ihm gewöhnlich im Alltag auferlegen. Wir werden durchlässig für tiefere Schichten unseres Seins und für die Stimme der Intuition, mit der unser höheres Selbst in Form von Symbolen und ausdrucksstarken Bildern zu uns spricht.

Viele spirituelle Traditionen haben deshalb versucht, das Bewusstsein der Schwelle zwischen Wach- und Traumzustand zu kultivieren, sodass wir fähig werden, unsere Träume nach dem Aufwachen zu erinnern. Und was vielleicht ebenso wichtig ist, dass wir lernen, unser Bewusstsein im Traumzustand aufrechtzuerhalten, sodass wir uns nicht in der Flut der Traumbilder verlieren, sondern unsere Träume klar und bewusst erleben.

Im Grunde ist dies genau dasselbe, was wir auch in der Meditation anstreben – die Aufrechterhaltung unseres Bewusstseins, während wir mit unserem Geist die Schwelle zu höheren Bewusstseinsschichten durchdringen. Gelehrt wird dies z.B. in der Hindutradition in der Kunst des Yoga Nidra, in den Traumyogas des Tibetischen Buddhismus oder in der Sufitradition.

 

Traum und Wirklichkeit

Wichtig ist dabei zu erkennen, dass wir unser Konzept von Traum und Wirklichkeit völlig umkrempeln müssen. Tenzin Wangyal Rinpoche, ein Meister des tibetischen Bön-Buddhismus, sagt: "Wir sehen den Traum gern als 'unwirklich' gegenüber dem 'wirklichen' Leben im Wachzustand. Aber es gibt nichts Wirklicheres als den Traum. Diese Aussage wird uns erst einleuchten, wenn wir verstanden haben, dass das normale Leben im Wachzustand so unwirklich ist wie der Traum – und in genau dem gleichen Sinne unwirklich.”¹

Im Wachzustand ebenso wie im Traum erschaffen wir uns unsere eigene Welt im Kopf. Sicher, da gibt es Wahrnehmungen über die Sinnesorgane. Doch wie wir diese Inputs verarbeiten und interpretieren, beruht auf unseren Erfahrungen und Vorannahmen. Die Arbeit mit Träumen kann uns helfen, diese Denkmuster zu erkennen und neue Möglichkeiten zu entdecken. Wir lernen, die Weisheit des Traums zu erkennen, die uns zeigt, womit wir uns konfrontieren sollten und wo unser geheimes Potenzial liegt. Unsere Träume werden allmählich klarer, und das spiegelt sich auch in unserem Alltagsbewusstsein wider.²

Auf diese Weise werden wir innerlich frei. Im Grunde waren wir immer frei. Die Fesseln haben nur in unserer Vorstellung existiert. In den Worten des Sufimeisters Vilayat Inayat Khan: "Oh Mensch, wüsstest du nur, dass du frei bist! Dass du das nicht weißt - darin besteht dein Gefängnis."³

 

Die Bedeutung von Träumen im Retreat

Innerhalb des Inayatiordens hat sich vor allem Nigel Hamilton, Begründer der Inayatiorder UK und Direktor des Centre for Counselling & Psychotherapy Education in London, intensiv mit den Potenzialen des Träumens beschäftigt. In seiner Doktorarbeit⁴ konnte er nachweisen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen unseren Träumen und den Bewusstseinsebenen gibt, auf denen wir uns gerade befinden.⁵ Besonders deutlich ist das im Retreat, wo die Träumenden von den Einflüssen der Außenwelt abgeschirmt und ganz auf die innere Welt fokussiert sind. Aber auch im Alltagsleben durchlaufen wir immer wieder bestimmte Entwicklungsprozesse und -stufen, die sich in unseren Träumen widerspiegeln.

Mit Hilfe der Träume ist es möglich, die Retreatants sehr behutsam und präzise anzuleiten. Die Träume zeigen, welche Ressourcen gerade nötig sind. Und sie bieten besonders kraftvolle und wirksame Bilder für die Meditation.

 

Mit Träumen im Wachzustand arbeiten

Für die Arbeit mit Träumen außerhalb des Retreats hat Hamilton den sogenannten Wachtraumprozess entwickelt, bei dem die Klienten unter Anleitung eines Guides den Traum im Wachzustand noch einmal durchleben, diesmal aber bewusst. Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist es, auf die Resonanz des Traumgeschehens im Körper zu achten. Das hilft, die Traumarbeit authentisch zu machen, und "erdet" die Träumer. Hamilton: "Wenn wir mit dem gefühlten Erleben der Träume im Körper arbeiten, arbeiten wir mit der ganzen Person – mit Körper, Denken, Seele und Geist." ⁶

Träume helfen uns wahrzunehmen, was sich in unserem Inneren abspielt. Wir lernen, unsere Gefühle und unsere tiefsten Wunden wahrzunehmen und in unserem Inneren bewusst zu "halten", vorurteilsfrei. Dadurch kann die Energie wieder zu fließen beginnen und in Balance kommen. Auf diese Weise können die Träume einen tiefen inneren Heilungsprozess auslösen, der zum spirituellen Erwachen führt.

 

Ein Beispiel für den Wachtraumprozess

Wie so ein Wachtraumprozess ablaufen kann, zeigt das folgende Beispiel, das aus Hamilton's Buch „Erwachen durch Träume. Eine Reise durch die innere Landschaft“, S. 273 f. stammt. Die Klientin beschreibt darin folgenden Traum:

Ich sehe einen Teller mit Reis und grünen Würmern. Ich sortiere die Würmer aus und trenne sie vom Reis. Später betrete ich einen Raum ohne Ecken. Ein Mann, ein Heiler, kommt herein. Ich lege meinen Kopf in den Schoß des Mannes (auf die linke Seite). Der Heiler sieht, dass ich Heilung für eine alte Wunde benötige. Der Heiler sagt, dass diese Wunde vor 45 Jahren in Piedmont entstanden ist.

Sie fasst ihre Erfahrung des Wachtraumprozesses folgendermaßen zusammen:

Mein Guide befragt mich über mein Leben vor 45 Jahren. Ich war sehr unglücklich zu Hause, weil meine Eltern dort ein Geschäft betrieben. Ständig läutete das Telefon. Ich fühlte mich irritiert dadurch – beinahe „heimatlos“. Diese Erinnerung verbindet mich mit einer anderen Erinnerung vor zwanzig Jahren, als ich schwanger war und mit Freunden in Piedmont lebte. Auch zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich irritiert, und mir fehlte das Gefühl, dort zu Hause zu sein.

Mein Guide ersucht mich, eine der grünen Larven herauszunehmen und zu halten. Sie wird zu einem kokonartigen Faden, der sich um mich schlingt und mich in einer ovalen Form umhüllt (wie eine Gebärmutter, betonte mein Guide später, oder vielleicht ein Symbol für meine Aura). Ich spüre, dass ich in der linken Schulter ein Gefühl der Energielosigkeit habe. Mein Guide sagt, ich soll mich darauf konzentrieren. Ich folge dieser Aufforderung, und plötzlich spüre ich dort und rund um mein linkes Ohr eine gewaltige Energieexplosion. Unmittelbar darauf nehme ich wahr, dass ich von einem Gefühl des Friedens eingehüllt bin. Auch mein Guide spürt das. Seit dieser Traumarbeit habe ich ein neues Lebensgefühl und inneren Frieden gefunden.

Der Guide hinterfragt den Hinweis auf 'Piedmont vor 45 Jahren' und hilft dadurch der Träumerin, sich mit der Vergangenheit und der alten Wunde, die Heilung braucht, zu verbinden ... Die Erfahrung der Träumerin im Körper zu lokalisieren (auf der linken Seite, wie der Traum andeutet), war der Schlüssel zur Freisetzung dessen, was im Traum festgehalten wurde. Die Empfindung (oder das Fehlen derselben) rund um die Schulter bezeichnete in diesem Fall jenen Punkt, an dem die festgehaltene Energie freigesetzt wurde. Das Erleben des Traums durch den Körper half, Zugang zu der schwierigen Erinnerung an die frühe Kindheit zu bekommen, die Blockade zu entfernen und die feine Energie hinter dem Traum offenzulegen.“⁷

 

Wie wir Träume besser erinnern können

> Das Wichtigste ist, dass wir vor dem Einschlafen den festen Entschluss fassen, dass wir uns am folgenden Morgen an unsere Träume erinnern wollen.

> Hilfreich ist auch, vor dem Einschlafen im Liegen ein paar entspannte Atemzüge zu machen. Beim Einatmen spüren wir, wie jede Zelle unseres Körpers von frischer Energie durchströmt wird. Und beim Ausatmen geben wir alles Unreine und Belastende ab. Diese Übung hilft, unser (Traum-)Bewusstsein klarer und durchlässiger zu machen.

> Beim Aufwachen ist es wichtig, die Träume sofort niederzuschreiben. Zu diesem Zweck sollten Papier und Schreibstift (oder ein Diktaphon) auf dem Nachtkästchen bereit liegen.

 

___________________________________________________________________________________

¹) Wangyal, Tenzin, Übung der Nacht: Tibetische Meditationen in Schlaf und Traum. Goldmann 2008, S. 28.

²) Hazrat Inayat Khan sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der spirituellen Entwicklung eines Menschen und der Fähigkeit, sich seiner Träume und deren Bedeutung bewusst zu werden (siehe z. Bp. HIK, Spiritual Liberty, Geneva 1979, S. 29).

Manche Träumer beginnen nun auch, "luzide" zu werden, d.h. sie werden sich im Traum bewusst, dass sie träumen, und können mit etwas Übung auch in Dialog mit dem Traum treten und das Traumgeschehen beeinflussen. Einen schönen Überblick über das Potenzial von luziden Träumen und darüber, wie luzides Traumbewusstsein und spirituelle Reifung Hand in Hand gehen, zeigt Robert Waggoner in “Lucid Dreaming. Gateway to the Inner Self, San Francisco 2009.

³) Pir Vilayat hat dieses Zitat oft verwendet. Die Version hier stammt aus einem Gespräch mit Jeffrey Mishlove. Quelle: www.intuition.org/txt/khan.htm.

⁴) Hamilton, Nigel, The Role Of Dreams In The Study Of Human Transformation, PhD Thesis DeMontfort University 2006.

⁵) Hamilton unterscheidet sechs verschiedene Bewusstseinsebenen – die dichte Mentalebene (das weltbezogene Selbst), die feine Mentalebene (das kreative Selbst), die dritte Ebene (das liebende Selbst), die vierte Ebene (das weise Selbst), die fünfte Ebene (das heilige Selbst) und die sechste Ebene (das reine Selbst). Jenseits davon liegt der Zustand der Transzendenz, der von den Sufis Hahut genannt wird.

⁶) Hamilton, Nigel, Erwachen durch Träume. Eine Reise durch die innere Landschaft. Übers. v. Ingrid Dengg, tredition Verlag, Hamburg 2019, S. 259. Erhältlich ist dieses Buch hier.

⁷) Weitere Infos zum Wachtraumprozess inkl. Videobeispielen finden Sie auf der Website des Dream Research Institute, DRI.