Suhrawardi

 

Eine der wichtigsten Sufi-Übungen ist 'tasawwur-i murshid', die Einstimmung auf einen Meister oder eine Meisterin, die uns besonders nahestehen. Der Sinn dahinter ist der, dass diese Person jene Eigenschaften, die wir gerne entwickeln würden, auf eine viel bessere Weise verkörpert, als wir dazu in der Lage sind.

In Wahrheit versuchen wir dabei mit unserem eigenen Selbst Kontakt aufzunehmen. Weil es aber sehr schwierig ist, sich auf etwas jenseits von Zeit, Raum und Form einzustimmen, dient uns das Antlitz des Meisters oder der Meisterin als Orientierung. Und doch ist es gleichzeitig mehr als nur unser eigenes Selbst. Der Sufimeister Shihabuddin Yahya Suhrawardi sagt, dass es auf der Ebene von Alam al-Mithal, der Ebene der Imagination, auch zu tatsächlichen Begegnungen mit diesen Wesen kommen kann, beispielsweise in Visionen oder Träumen während eines Retreats.

Suhrawardi zählt zu jenen MeisterInnen, die ich außerordentlich schätze. Ich habe mich intensiv mit seinem Leben und seinen Lehren beschäftigt. Und ich animierte meine Arabisch-Lehrerin Sonia Al-Dulayme, einen Teil von Suhrawardis Gebeten aus den 'Waridat wa taqdisat' aus dem Arabischen ins Deutsche zu überetzen. Die Gebete finden Sie hier.

   Suhrawardis Dargah in Aleppo

 

Leben und Werk

Suhrawardi lebte von 1154 bis 1191 und gilt heute neben Ibn Arabi als einer der bedeutendsten Sufi-Meister. In seinen philosophischen Schriften vereint er Elemente aus der Tradition Zarathustras, der Pythagoräer, des Platonismus und Hermetismus mit dem Islam. Viele seiner Gedanken waren für die damalige Zeit außerordentlich radikal. So versuchte er etwa zu zeigen, dass im Kern der göttlich offenbarten Traditionen jeweils eine einzige universelle Wahrheit steht.

Suhrawardi entwickelte auch das altpersische Konzept der 'divine governance' weiter. Die Perser waren der Ansicht, dass die Könige von einem göttlichen Licht (kharra-yi kiyani) erleuchtet waren, das ihnen Heilkräfte und okkulte Kräfte sowie die Fähigkeit zu regieren verlieh. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war Suhrawardi jedoch der Ansicht, dass nicht nur Könige dieses göttliche Licht und somit die Fähigkeit zum Regieren erlangen konnten, sondern jede Person, die offen für Gottes Offenbarung ist. Suhrawardi sah es auch als seine Mission, den Regenten seiner Zeit die Weisheit der Erleuchtung näher zu bringen. Einer der Regenten, deren Nähe er suchte, war Saladins junger Sohn Malik al-Zahir, Regent von Aleppo. Den Vertretern der traditionellen Islam-Schulen der Stadt war der brilliante, scharfzüngige Sufi mit seinen radikalen Thesen ein Dorn im Auge, und sie intervenierten bei Saladin, bis Suhrawardi schließlich im Jahr 1191 zum Tod verurteilt wurde.

Suhrawardis 'Philosophie der Erleuchtung', seine Theorie des 'Wissens durch Präsenz' und sein Konzept von Hurqalya, der Welt der Imagination, wirken bis in die Gegenwart. Einer der bekanntesten Nachfolger in der Tradition des Scheich al-Ishraq, wie er auch genannt wird, ist der iranische Philosoph Mulla Sadra. Einige Werke Suhrawardis gelangten sogar nach Indien und wurden dort während der Moghul Periode in Sanskrit übersetzt. Auch eine hebräische Übersetzung gab es. Lediglich im Westen war der Scheich - mangels lateinischer Übersetzung - lange Zeit kaum bekannt. Zu den bedeutendsten Suhrawardi-Rezeptionisten unserer Zeit zählen Henri Corbin und John Walbridge.

Näheres zum Leben und Werk des Scheich und zu seinen philosophischen Konzepten inklusive ausführlicher Literaturliste finden Sie in diesem Beitrag zu Suhrawardi.