Das arabische Wort für Gebet ist 'al wird', was wörtlich übersetzt 'zur Quelle gehen und trinken' bedeutet. Im Gebet, sagen die Mystiker, bringen wir die beiden Pole unseres Wesens zusammen. Der begrenzte Teil unserer Persönlichkeit, das Alltags-Ich, versucht mit dem unbegrenzten Teil Kontakt aufzunehmen - jenem Teil, der manchmal 'höheres Selbst', manchmal auch nur 'Selbst' oder das 'Unbewusste', manchmal 'Gott' genannt wird. Gott braucht uns, um in dieser Welt realisiert werden und Gestalt annehmen zu können. Und die Sufis betonen, dass die Sehnsucht nach Begegnung mit dem Göttlichen eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist.
Diese Sehnsucht ist nicht selbstverständlich, sondern Gnade. So bittet Suhrawardi beispielsweise im 'Gebet zu Ehren des Erhabenen' nicht um 'Vereinigung' mit Gott, sondern er sagt: „Ich bitte dich, schenk mir die Sehnsucht nach Begegnung mit dir!“ In eine ähnliche Richtung geht jenes Gedicht von Jelaluddin Rumi, das ich an den Beginn dieser Website gestellt habe: „Verbring weniger Zeit damit, Wasser zu suchen, und vermehre den Durst! Dann wird das Wasser von oben und unten herbeiströmen.“ Auch hier ist es also das Suchen, worauf es ankommt. Dann folgt das Finden ganz von selbst.
Nennen wir es unser Ideal
Ein weiterer Aspekt des Gebets, der sehr wichtig ist, ist die Anrufung, sagt Pir Zia Inayat Khan in seinem Beitrag "Die fünf Aspekte des Gebets und die fünf Elemente". Er zitiert den Heiligen Ali, der sagte: 'Bete zu Gott, als ob du Gott sehen würdest.' Aber was bedeutet es, Gott zu 'sehen'? Was ist Gott überhaupt? Was ist das, woran wir glauben? Letztlich gibt es so viele Definitionen von Gott, wie es Menschen gibt. Jede Person hat ihren eigenen Pfad zu Gott, und dieser Pfad ist ihr Ideal.
Wir könnten in dieser Welt nicht ohne Ideal leben - wir würden gebrochen dadurch. Wenn Hazrat Ali davon spricht, dass wir beten sollen, als ob wir Gott sehen würden, bedeutet das, dieses Ideal aus dem abstrakten Reich der Vermutung in die lebendige Realität zu bringen. Und das Ideal einer Person ist immer genau das, was diese Person braucht, um sich selbst zu entwickeln, sagt Pir Zia. Das ändert sich in verschiedenen Entwicklungsphasen, und so ändern sich auch unsere Ideale und unser Gottesbild.
Hazrat Inayat Khan sagt, 'Gott ist das, was wir brauchen, um vollständig zu werden'. Und so ist jeder von uns ein 'Werk in Arbeit'. Es gibt Qualitäten, die in uns angelegt sind, sich aber noch nicht manifestieren konnten. Wir werden auf sie aufmerksam durch unsere Ideale. Und wir werden im Leben von Menschen angezogen, die dieses Ideal auf eine Weise manifestieren, wie wir das selbst noch nicht können. Diese Person wird dann zu einem Spiegel, in dem sich unser wahres Selbst erkennen kann.
Anrufung bedeutet, mit dieser Qualität des Seins zu leben, so wie wir mit einer anderen Person leben würden, und zu erleben, wie diese Qualität in unserem Leben wichtig und lebendig wird.