Auf den Spuren der Partisanen

 

Im Sommer 2021 machte ich das Fischerdorf Båtsfjord an der Eismeerküste in Nordnorwegen zu meinem "Hauptquartier" und schwärmte von dort mit Rucksack und Zelt in verschiedene Richtungen aus. Mein erstes Ziel war die Partisanenhöhle in der Tømmervika. Die zweite Destination war der Stangenestind, der mit seinen 724 Höhenmetern der höchste Berg auf der Varangerhalbinsel ist. Das mag mickrig klingen. Trotzdem kommt seine Besteigung einer kleinen Expedition gleich. Denn um zu diesem Berg vorzudringen, muss man zwei bis drei Tage durch wegloses und zum Teil mühsames Gelände gehen. (Eine deutlich kürzere Route vom Meeresufer hinauf ist nur mit Boot möglich.) Der dritte Teil meiner Wanderung führte mich in den Syltefjord-Sandfjorden. Hier befinden sich die Ruinen eines längst aufgelassenen Fischerdorfs. Und der Stolz der Küstenbewohner – ein Vogelfelsen namens Stauran.

 

 

I. Zur Partisanenhöhle in der Tømmervika

 

Donnerstag, 8. Juli 2021

 

Was für ein Unterschied! In Wien und auch in Frankfurt drängelten sich die Urlauber. Natürlich war auch dort noch lange nicht Vollbetrieb. Doch die Stimmung war irgendwie: Jetzt hau'n wir den Hut drauf auf Corona! Jetzt urlauben wir mal auf Teufel komm raus.

Und hier in Oslo ist alles so verschlafen. Große Teile des Flughafens sind abgesperrt, viele Lokale und Geschäfte geschlossen. Draußen auf dem Vorplatz, wo sich sonst die Urlauber um Taxis raufen oder in die Busse drängen, sitzen heute vereinzelte Grüppchen von Reisenden gemütlich in der Sonne und warten ohne Maske im Freien auf ihren Flug.

...

Am Flughafen in Kirkenes empfing uns gleich eine frische Brise, und eine wunderschöne Lichtstimmung. Dunkle Wolken, dazwischen die Sonne, grau, blau, golden das Meer. Beim Weiterflug mit einer kleinen Propellermaschine kamen wir vor Båtsfjord in einen dichten Nebel. Gottseidank reichte der Nebel nicht bis zum Boden. Trotzdem war die Landung eine der heftigsten, die ich hier oben je erlebt habe. Der kleine Flieger sackte zwischen den scharfen Böen immer wieder ab. Die Seitenwände ächzten und rüttelten unter dem Druck. Und als wir schon knapp über der Landebahn waren, schwankte der Flieger wie ein Besoffener hin und her. Schließlich setzte er doch auf, war aber bereits im hinteren Stück der Landebahn und legte eine Vollbremsung hin.

Monika hatte mir ein Taxi bestellt, das mich zum Båtsfjord Brygge Hotel brachte. Und als sich ein junger Mann bei der Ankunft erbot, mir den schweren Koffer über die Stufen zu schleppen, war ich heilfroh.

 

Gewitterstimmung bei der Ankunft in Båtsfjord

 

 

Freitag, 9. Juli 2021

 

Ich liege in meinem Zelt und habe die Daunenjacke über die langärmelige Merionounterwäsche gezogen, weil es mir sonst im Schlafsack zu kalt wäre.

Heute Früh hat mich Monika ganz ganz liebevoll begrüßt. Und auch ihre Mitarbeiterinnen. Sie wusste noch genau, wer ich war. Und wie ich damals im März 2020 wegen Covid überstürzt abgereist war. Ich glaube, sie freute sich wirklich, dass ich wieder da bin. Auch wenn ich diesmal nur wenige Nächte bei ihr übernachte und dafür ihr Service in Anspruch nehme – dass ich meinen Koffer bei ihr deponieren darf, und mir zwischen meinen Zelttouren neuen Proviant daraus holen darf.

Die 400 Höhenmeter auf die Kyst-Rubbedalshøgda mit dem schweren Rucksack waren dann ganz schön anstrengend, obwohl ich bis dorthin auf der Zufahrtsstraße zum Windpark Hamnefjell gehen konnte. Gleichzeitig fühlte ich mich so frei und froh! Endlich wieder in Norwegen sein dürfen, der Geruch von Meer, die Schreie der Möwen, die grünen Matten und die farbenfrohen Blumen. Purpurrote Steinnelken, gelbe Trollblumen, die weißen Blütensterne des schwedischen Hartriegels mit den schwarzen Samen in der Mitte. Die Birken, die bei dem rauen Klima eher buschartig sind oder sich gar nur flach über den Boden ausbreiten. Dazwischen die klagenden Lockrufe der Goldregenpfeifer.

 

In Dorfnähe ist die Vegetation noch üppig und farbenfroh

 

Weiter oben wurde es dann immer karger. Bis schließlich die Steinhalden anfingen. Scharfkantige Steinblöcke, soweit das Auge sehen konnte. Die meisten nicht allzu groß und einigermaßen passabel zu begehen, aber anstrengend, weil man dauernd konzentriert sein muss, um auf die richtige Stelle zu treten und nicht abzurutschen. Das Vorankommen war jetzt mühsamer.

Vom Mast auf der Kyst-Rubbedalshøgda musste ich hinunter in die Senke mit dem Quellfluss des Austre Rubbedalen (dt. östliches Rubbetal). Teils fließt dieser Bach (mehr ist da nicht) unterirdisch. Kein Wunder bei all diesen lockeren Steinen. Teils sind diese Felsbrocken, unter denen man es gluckern und rauschen hört, mit saftig grünem Moos überzogen. Als ich weiterging, entdeckte ich immer wieder kleine Grünoasen an winzigen Bächen, die man hier gar nicht vermutet hätte.

 

Der Bach im Austre Rubbedalen

 

Und jedes Jahr passiert mir dasselbe: Ich vergesse, welch respektable Entfernungen sich hinter den paar Zentimetern auf der Karte verbergen, auch wenn es Maßstab 1:50.000 ist. Die Wanderung über die Hochebene auf die andere Seite der Halbinsel schien sich ewig hinzuziehen. Immer wenn ich glaubte, jetzt habe ich den höchsten Punkt des Höhenrückens erreicht, ging es dahinter immer noch weiter bergauf.

In diesem Steinmeer kann man auch sehr leicht die Orientierung verlieren, weil alles sehr eintönig ist, kaum Landmarken. Da waren lediglich der Mast und die Windräder in meinem Rücken, an denen ich mich immer wieder ausrichten konnte. Nach langer, langer Zeit dann linker Hand ein kleiner, runder See. Der gehörte wohl zur Rubbedalshøgda, die der Kyst-Rubbedalshøgda gegenüberliegt. Zwillingsberge gewissermaßen.

Dahinter hatte ich eigentlich ein grünes Tal erwartet. Doch wieder nur Steine, auch wenn es jetzt bergab ging. Und dann sah ich unter mir in einiger Entfernung zwei Seen – einen in Kipferlform, der zweite dahinter rund. Die Form von Seen ist immer sehr hilfreich bei der Orientierung, weil man sie auf der Karte leicht finden kann. Der Kipferlsee ist also Teil der Rubbedalsvatna (dt. Rubbetalsseen). Sein Auslauf ist der Fluss im Vestre Rubbedalen (dt. westliches Rubbetal). Ich bin also genau richtig. Oberhalb des Sees sehe ich grüne Matten mit gelben Hahnenfüßen. Und ein Bächlein sprudelt durch die Wiese. Ich sehe eine kleine Rentierherde, die hier friedlich grast und mich neugierig beim Näherkommen beobachtet. Schließlich ist ihnen das Ganze nicht mehr geheuer und sie entfernen sich bedächtigen Schrittes.

 

Rubbedalsvatn am Abend bei der Ankunft

 

Ich beschließe, auf dieser Wiese mein Zelt aufzustellen. Denn ich bin müde. Es ist 18:00, und ich bin 6 1/2 Stunden gegangen. Das reicht für den ersten Tag. Beim Auspacken und Zeltaufstellen merke ich, dass ich schon längere Zeit nicht mehr mit dem Zelt unterwegs war. Obwohl der Wind mäßig ist, dauert es einige Zeit, bis das Zelt endlich steht. Dafür ist mein neuer Faltwasserkessel genial. Er ist leichter zu handhaben und viel kleiner als mein altes Campinggeschirr. Und das Wasser wird schneller heiß, weil der Deckel gut schließt. Ich genieße meine Pasta mit Gemüse und Lachs. Turmat ist halt doch mit Abstand das Beste unter den gefriergetrockneten Fertigmahlzeiten. Gleichzeitig wird mir jetzt, wo ich nicht mehr gehe, rasch kalt. Es hat seit Mittwoch einen Temperatursturz hier oben gegeben, von 23 Grad auf 8 bis 10 Grad. Jedenfalls laut Wetterbericht. Für mich fühlt es sich an, als wären wir nahe am Nullpunkt.

Gleichzeitig attackieren mich hier in der Nähe des Wassers die Gelsen. Ich fische das Gelsenmittel mit dem etwas einfältigen Namen “Anti-Brumm” aus dem Gepäck und habe Glück – es wirkt. Aber morgen früh das Bad im Bach wird sicher nicht angenehm, denn da werden sie sich gierig auf mich stürzen.

 

Derselbe See am nächsten Morgen

 

 

Samstag, 10. Juli 2021

 

Ich war in der Tømmervika (dt. Treibholzbucht)! Und in der Partisanenhöhle!

Aber alles der Reihe nach. Heute vormittag taten mir beim Gehen die Füße weh, und ich hatte Sorge, dass ich mir Blasen holen würde, wenn ich weitergehe. Also ergriff ich die Gelegenheit, als nach zwei Stunden ein schöner Wiesenplatz am Flussufer auftauchte, und baute dort mein Zelt auf. Ich wusch mir die Füße, auch die Socken, die durchgeschwitzt waren. Und nach einem Riegel fühlte ich mich wieder voller Tatendrang und beschloss, auf “Fact-finding-mission” zu gehen und Wege in die Tømmervika hinunter zu erkunden. Zunächst war das Tal freundlich und lud auf beiden Seiten zum Gehen ein. Doch das Problem sind immer die letzten 100 bis 150 Höhenmeter, in denen der Fluss über die Steilküste hinunter den Weg zum Meer sucht. Der Vestre Rubbedalselva floss nun in Kaskaden von Steinbecken zu Steinbecken und stürzte sich schließlich in freiem Fall in eine Schlucht hinunter. Der Weg auf der linken Seite, den mein Freund Dieter seinerzeit ins Auge gefasst hatte, erwies sich als vollkommen unbegehbar, weil er in Steilabbrüche mündete. Rechts schob sich jedoch eine große Felsnase vor, und auf deren Rückseite fand ich einen Weg zum Strand. Nur eine Passage war etwas ausgesetzt, sonst ließ es sich dort recht gut gehen.

 

Ich wandere den Vestre Rubbedalselva entlang

 

Nun beginnt bald der Steilabfall zum Meeresufer hinunter

 

Diesen Wasserfall muss ich umgehen

 

An der Mündung ist der Rubbedalselva wieder ein sanftes Bächlein

 

Nachdem ich den Fluss (eigentlich: Bach) bei der Mündung durchwatet hatte, fand ich recht schnell die Partisanenhöhle. Aber sie erschien mir so mickrig von unten. Und irgendwie hatte ich keine Lust, die 40 Meter zum Höhleneingang hinaufzuklettern. Also wanderte ich am Strand weiter. Er ist recht breit und gut begehbar, und immer wieder wachsen einzelne Felsblöcke wie Spitzhüte aus dem Boden. Bis hinüber zur Mündung des Stuoarraleakši wollte ich aber dann doch nicht mehr, weil ich müde und hungrig war.

 

Die Tømmervika mit ihren Spitzhüten

 

Auf dem Rückweg sah ich, dass die Partisanenhöhle doch ein schönes Stück weit in den Berg hineinging. Ich kletterte hinauf und sah Reste von Brettern, auf denen die Partisanen wohl damals gesessen und wohl auch geschlafen hatten. Mitten im Winter. Und ohne ein Feuer zum Wärmen, damit der Widerschein sie nicht verraten konnte. Die Wände im Höhleninneren waren abgeschliffen und feucht. Schutz fand man dort schon, aber nicht vor der Kälte.

 

Der Spalt da oben ist die Partisanenhöhle

 

Reste von alten Brettern im Höhleninneren

 

Von hier aus haben sie also die vorbeifahrenden Schiffe der Deutschen beobachtet

 

Ich verzehrte meinen zweiten Riegel und machte mich auf den Heimweg zum Zelt, das sich etwa zwei Stunden flussaufwärts befand. Eine steife Brise kam auf, ziemlich kalt. Und als ich beim Zelt war, sah ich, dass der Wind die Leine von einem der Heringe weggerissen hatte. Ich legte auf alle Heringe einen Stein zum Beschweren drauf, damit die Leinen fixiert sind. Und freute mich so sehr über mein Abendessen! Real Turmat ist wirklich köstlich, umso mehr nach einem anstrengenden Tag.

Mittlerweile liege ich wieder mit Daunenjacke im Schlafsack. Abends wird es hier immer empfindlich kalt. Wenigstens hat der Wind die Gelsen verscheucht. Auf meiner neuen Luftmatratze liege ich wunderbar. Auch das Solarpanel scheint problemlos zu funktionieren. Ein bis zwei Sonnenstunden genügen, um die Powerbank wieder aufzuladen. Und abends lade ich mit der Powerbank dann die Kameraakkus. Nur den Wassersack muss ich erneuern. Dass er nicht mehr ganz dicht ist, wusste ich ja. Aber dass er im Vorzelt eine riesige Wasserlacke produziert, hätte ich nicht erwartet. Ich befördere ihn schleunigst hinaus auf die Wiese. Zum Wasserholen taugt er schon noch.

 

 

Sonntag, 11. Juli 2021

 

Es ist jetzt 11:00. Und ich habe gerade ausführlich meine Übungen gemacht. Zunächst den Elementeatem. Und es war wunderbar, den draußen in der Natur zu machen und die Erde unmittelbar unter mir zu spüren, das Wasser neben mir plätschern zu hören, die Wärme der Sonne im Rücken und den leichten Luftzug in meinem Gesicht zu spüren.

Es ist schön, dass hier Zeit keine wirkliche Rolle spielt, weil es 24 Stunden am Tag hell ist. Wenn ich später weggehe, so wie heute, komme ich eben später zum Zelt zurück. Ich habe übrigens beschlossen, diesen Zeltplatz beizubehalten, obwohl er zwei Stunden von der Tømmervika entfernt ist. Es ist einfach so schön hier, das Tal ist weit und grün, ein Stück oberhalb der kleine See, eine gerade Liegefläche, der Waschplatz am Fluss ideal. Und es ist hier auch ein guter Ausgangspunkt, wenn ich vielleicht morgen oder übermorgen das Vesterdalen erkunden will.

 

Dieser Zeltplatz ist ideal

 

21:00

Heute war ein wundervoller Tag. Wolkenloser Himmel, zunächst noch ein eiskalter Wind, der sich aber irgendwann legte. Ich war so beschwingt und genoss die warmen Strahlen der Sonne. Ich bin gemütlich in der Tømmervika den Strand entlang gewandert, hab dies und das fotografiert und bewundert. Zum Beispiel, dass die Spitzhüte deshalb so ausschauen, weil die Gesteinsschichten schräg nach oben gehen, genauso wie bei dem dahinterliegenden Berg. Irgendwann bin ich dann auf üppig grüne Vegetation gestoßen und dachte mir schon, da muss irgendwo Wasser sein. Und dann sah ich auch schon einen kleinen Wasserlauf und einen Süßwassertümpel. Ich hab auch eine blaue Sandform gefunden, in Gestalt eines Vogels. Die hab ich für Jacob mitgenommen, meinen kleinen Neffen. Ich werde sie noch putzen und hoffe, dass er sich darüber freut. Beinahe hätte ich auch eine sattgelbe, ovale Plastikboje mitgenommen. Aber dann dachte ich mir, wo geb ich das denn hin zu Hause? Und ließ es bleiben. Ich habe bereits so viel zu Hause angesammelt. Da dürfen nur noch ganz besondere Stücke dazukommen.

 

Die schrägen Gesteinsschichten sind auch in den Uferklippen erkennbar

 

Das üppige Grün zeigt an, dass hier in der Nähe eine Quelle sein muss

 

Schließlich kam ich am anderen Ende der Bucht an. Und das war eine kleine Enttäuschung. Denn ich kam nicht durch zur Mündung des Stuorraleakši. Rechts brandete das Meer gegen die Klippen, links war eine Steilwand. Und dazwischen war eine Rinne, die mit riesengroßen Felsblöcken angefüllt war. Ich turnte über die Blöcke, bis ich vor einem mehrere Meter hohen Steilabfall stand. Da war es also zu Ende. Und ich vermute, dass sich mir noch mehr solcher unüberwindbaren Hindernisse in den Weg gestellt hätten, wenn ich diese eine Schlüsselstelle überwunden hätte.

 

Kurz vor der Mündung des Stuorraleakši werden die Uferfelsen unpassierbar

 

Und die Brandung ist beachtlich

 

 

Montag, 12. Juli 2021

 

Bisher hatte ich immer gut geschlafen. Aber die heutige Nacht war kurz. Cirka 4 Stunden Schlaf, dann war es vorbei. Also habe ich die Flucht nach vorn angetreten und beschlossen, den Tag gleich zu beginnen. Zunächst einmal mit kaltem Kaffee, um Gas zu sparen, da ich nicht weiß, wie lange ich mit einer Kartusche wirklich auskomme. Dann habe ich den Fehler gemacht, das Zelt aufzumachen. Was zur Folge hatte, dass die Gelsen hereingetanzt sind. Ich habe sie mittlerweile alle umgebracht. Das geht bei diesen hier recht leicht. Offenbar sind sie es nicht gewohnt, dass jemand Jagd auf sie macht. Einige Gesenstiche spüre ich noch von gestern. Nur nicht kratzen oder rubbeln, dann geht der Juckreiz bald wieder vorbei :-)

Das Wetter ist gemischt. Teilweise Wolken, aber auch Sonne. Jedenfalls aber kein Nebel, worüber ich froh bin. Die Morgenwäsche wird allerdings noch eine Herausforderung, weil sich die Gelsen beim Bach vermutlich auf mich stürzen werden.

04:50

Der Himmel ist wieder weitgehend klar, die Solarzellen produzieren eifrig Strom, um die Powerbank aufzuladen. Ich bin frisch gewaschen und habe einen warmen Frühstückskaffee samt Riegel im Magen. Und ich fühle mich so frei und glücklich hier!!! Der Bach gurgelt nahe an meinem Zelt vorbei. Vor mir die grüne Wiese mit Hartriegel und Hahnenfuß, auf der drüberen Bachseite auch der unvermeidliche Schierling. Die Steinrücken der Berge sind von grünen Schatten angehaucht, dort wo etwas Vegetation Fuß fassen konnte. Und die Steine selbst haben im Morgenlicht einen warmen rötlichbraunen Farbton. Dazu das Blau des Himmels und die Wolkenfäden. Was will man mehr? Und die Gelsen, die Hatscher über endlose Steinfelder, die müden Glieder am Abend und das Frieren, wenn ich nachts aus dem Zelt muss – das gehört einfach irgendwie dazu.

Und ich habe solche Freude mit den neuesten Errungenschaften der Technik, die es mir möglich machen, das Gewicht so zu reduzieren, dass ich es noch tragen kann, trotz aller physischen Einschränkungen. Es ist dies auch der erste Sommer seit längerem, wo eine Zelttour überhaupt in Frage kommt. Denn die letzten Jahre hatte ich im Sommer regelmäßig einen Rheumaschub, der mir einiges vergällt hat. Und wo ich dann viel Cortison und Schmerzmittel nehmen musste.

Nicht so heuer. Toitoitoi, aber ich fühle mich gut und schmerzfrei. Das ist ein wunderbares Gefühl. Und ich hoffe, dass das auch so bleibt.

Das Gespräch mit meinem Internisten fällt mir wieder ein. Wie er zunächst über seine Impfskepsis sprach. Und dann fast gequält, jedenfalls aber sehr emotional sagte, er sei kein Verschwörungstheoretiker. Aber abweichende Meinungen vom Mainstream müssten doch möglich sein. Ich sagte dann, ich hätte ja auch nicht immer die gleiche Meinung wie er, darum hätte ich mich ja auch trotz seiner Impfskepsis impfen lassen. Da schluckte er kurz und sagte, er hätte es schon gern, wenn ich immer seiner Meinung sei, jedenfalls in Gesundheitssachen. Dann aber gab er sich einen Ruck und sagte, genau so solle es ja sein, das sei Demokratie.

Es ist schwierig. Einerseits halte ich es für gefährlich, wenn Ärzte Verschwörungstheorien über Covid 19 und Impfungen etc. verbreiten. Andererseits hat mein Internist seine Skepsis immer mit durchaus nachvollziehbaren Sachargumenten belegt. Nur beim letztenmal konnte ich seinen Argumenten nicht folgen. Der Lancet-Artikel, den er mir geschickt hat, hat jedenfalls nicht belegt, dass Impfen nicht gegen Covid hilft. Wenn er sich also als Arzt eine Meinung bildet und davon überzeugt ist, warum soll er das nicht äußern dürfen, auch seinen PatientInnen gegenüber?

 

15:05

Ich bin wirklich äußerst gastfreundlich. Zuerst biete ich den Gelsen ein Festmahl an. Und dann auch noch eine wundervolle Herberge, weil es ja draußen regnet. Aber Spaß beiseite: Das ist heute ein Tag zum Abgewöhnen.

Begonnen hatte es ja noch recht freundlich. Beim Weggehen waren zwar große Teile des Himmels bewölkt. Doch das kommt ja öfter mal vor. Ich ging also heute den anderen Quellfluss des Vestre Rubbedalselva hinauf, ein recht freundliches kleines Tal mit vielen Dotterblumen und Wollgräsern. Dann der spannende Moment – wie wird der See ausschauen, der jetzt gleich vor mir auftauchen wird? Nun ja, eine riesige Wasserlacke zwischen Steinfeldern und Hügeln. Nichtssagend, auch von der Form her. Da machte sein Pendant, der Kipferlsee, schon was anderes her. Ich machte mich also auf den beschwerlichen Marsch auf die andere Seite des Sees. Beschwerlich deshalb, weil ich immer wieder Steinfelder zu überqueren hatte.

 

Der größere der beiden Rubbedalsseen ist beschwerlich zu umrunden

 

Leider hatte auch der Wind in der Zwischenzeit aufgehört. Denn nun fielen die Gelsen in Schwärmen über mich her, wie ich sie nur von der Finnmarksvidda kenne. Ich besprühte mich mit “Anti Brumm”, und das half, aber nur für kurze Zeit. Und dann begann es auch noch zu regnen. Mein Rucksack wurde sofort nass, und ich packte das Regenzeug aus. Blöd, dass nun auch die Steine nass wurden, was sie nicht unbedingt rutschfester machte. Die Felsblöcke wurden auch größer und mühsamer zu begehen. Nach einer Stunde kam ich bei einer moosbewachsenen Stelle vorbei. Das Moos war frisch und grün, da musste irgendwo Wasser sein. Ich hätte gerne meine Wasserflasche gefüllt. Aber da war kein Wasser, nur tropfendes Moos.

Ich ging weiter am Seeufer entlang und scheuchte eine Schneehuhnmama auf. Während sie noch versuchte, mit ihrem Geflatter meine Aufmerksamkeit zu erregen, rannte eines der Jungen aus dem Nest und piepte verzweifelt nach der Mama. Und dann noch eines, und noch eines. Die Mama wusste nicht, was sie zuerst tun sollte – mich ablenken, damit ich den Jungen nichts tue. Oder die Küken einsammeln, die in alle Richtungen liefen. Ich wich so rasch ich konnte weiter nach links aus, um diese Familientragödie nicht noch größer zu machen.

Und dann dämmerte es mir, dass ich schon viel zu weit gegangen war. Der Zufluss zum See auf der gegenüberliegenden Seite, den ich angesteuert hatte und der als blauer Strich auf meiner Karte eingetragen war, war nichts anderes als der feuchtgrüne Moosabhang, an dem ich vorhin vorbeigekommen war. Also kletterte ich über die mittlerweile vom Regen glitschnassen Felsen wieder zurück, um an der richtigen Stelle zum Sattel hochzusteigen. Meine Regenjacke war bummfest zu, nicht einmal die Lüftungslöcher unten den Achseln ließ ich offen wegen der Gelsen. Der Regenschutz für meinen Rucksack war wegen des außen aufgebundenen Zeltes etwas zu knapp, sodass der Rucksack trotz Hülle an ein paar Stellen nass wurde (und der Inhalt auch, wie ich später bemerkte). Bei dem Gelsensee wollte ich nicht bleiben. Außerdem weiß man bei Regenwetter nie, ob nicht auch Nebel dazukommt. Deshalb wollte ich die Querung ins andere Tal machen, so lange ich noch gute Sicht hatte.

Doch als ich den Sattel erreicht hatte und auf der anderen Seite zum nächsten See hinunterstieg, fielen sofort wieder die Gelsen aggressiv über mich her. Das schwüle, feuchte Wetter und die Windstille behagten ihnen. Ich erneuerte genervt den Gelsenschutz, baute in Windeseile mein Zelt an einer passenden Stelle auf und warf dann alles kunterbunt rasch ins Innenzelt, das ich sofort hinter mir schloss.

Kleiner Einschub: Ich hatte draußen eine alte Feuerstelle entdeckt und versuchte kurz, vor dem Zelt ein Feuer zu entfachen, was aber nicht funktionierte. Da saß ich nun also in dem Chaos in meinem Zelt. Und das erste, was ich tat, war, dass ich Stück für Stück an die 20 bis 30 Gelsen mordete, die in dem kurzen Moment der Öffnung des Innenzelts mit mir hineingeschlüpft waren. Als ich dann meine Matte mitten in diesem Sauhaufen aufblies und dann nacheinander die Dinge an ihren richtigen Platz schlichtete, tauchten noch ein paar Gelsen auf, die sich offenbar zwischen meinen Sachen versteckt hatten. Eine ist mir dabei entwischt. Die ist immer noch irgendwo und lauert wohl darauf, sich an mir gütlich zu tun.

Gottseidank hatte ich mir vorher noch meine zwei Wasserflaschen unten am See angefüllt, sodass ich einigermaßen autark war. Kochen kam nicht in Frage, weil ich da das Zelt wieder aufmachen hätte müssen. Also habe ich probiert, wie es schmeckt, das Turmat mit kaltem Wasser aufzugießen. Das Ergebnis war eher grenzwertig. Da lag ich also nun in meinem Innenzelt und sah, wie sich immer mehr Gelsen in dem Zwischenraum zwischen Innen- und Außenzelt niederließen. Durch den dünnen Stoff konnte ich vage ihre kleinen Körper und die Beinchen erkennen. Beinahe auf jedem Quadratzentimeter saß bereits eine von ihnen. Und das penetrante Sirren, das sie von sich geben, wenn sie herumwabern, drang wie ein Chor von allen Seiten auf mich ein.

19:40

Ich hab am Nachmittag geschlafen, weil die Nacht davor ja sehr kurz war. Rückblickend könnte ich sagen, es war ein Glück, dass ich heute schon so bald aufgebrochen bin. Denn zur Zeit gibt es Dauerregen, mal stärker, mal nur nieselig. Und wie ich befürchtet habe, hängt der Nebel tief über dem See. Ich kann zur Zeit nicht einmal bis zum anderen Seeufer sehen. Aber ich habe bei meiner Ankunft hier gesehen, wo der Zufluss zum See ist, und dass dort grünes Buschwerk steht. Den kann ich also kaum verfehlen. Und ich habe am gegenüberliegenden Hang die E-Leitung gesehen, die über die Hochebene bis hinüber nach Båtsfjord führt.

 

 

Dienstag, 13. Juli 2021

 

Als ich in der Früh aus dem Zelt schaue, sehe ich strahlend blauen Himmel. Und ein angenehmes Lufterl bläst durch das Zelt. Die Gelsen sind zwar immer noch da, aber in verkraftbaren Mengen. Und sie tun sich jetzt schwerer beim Landen. Denn gestern haben sie mich ja überall gestochen, sogar durch die Wanderhose hindurch.

Wie schön und freundlich dieser gestern so grässliche See doch gleich im warmen Sonnenlicht erscheint!

 

Der Gelsensee am nächsten Morgen

 

14:30

Das war heute eine eher kurze Wanderung. Inklusive Umrundung des ersten Sees mit viel Schauen und Staunen und Fotografieren insgesamt 3 1/2 Stunden. Ich bin den Seitenfluss des Stuorraleakši hinauf, zunächst zu einem kleineren See und dann weiter zum Zielsee. Der Bachlauf war spannend zu gehen. Immer wieder Blumen, ganz viele gelbe Trollblumen. Ein Stück weit ist er auch unter einer riesigen Schneewächte verschwunden. Der Schnee hat erstaunlich gut getragen, obwohl schon Juli ist.

Wieder einmal hab ich ein Schneehuhn aufgescheucht. Es flog nicht weg, sondern versuchte sich immer wieder zwischen den Ufersteinen und dem Grün zu verbergen, was ihn vermutlich auch gelungen wäre, wenn ich seine Flucht nicht mit den Augen verfolgt hätte. Junge dürfte es keine gehabt haben. Denn die Mütter versuchen immer die Aufmerksamkeit durch angebliches Humpeln oder Flügellahmen zu erringen, um von ihren Jungen abzulenken.

 

Strahlend gelbe Trollblumen ...

 

... und ein aufgescheuchtes Schneehuhn

 

Ich sah auch wieder Rentiere, die sich besonders gern auf Schneefeldern aufhalten, wenn sie nicht gerade fressen. Oft legen sie sich sogar auf dem Schnee nieder. Wahrscheinlich ist ihnen heiß. Auch einen dieser kleinen weißen Vögel mit den schwarzen Zeichnungen auf den Flügeln habe ich wiedergesehen.

Und natürlich die unvermeidlichen Gelsen. Als ich bei meinem Zielsee ankam, fiel der erste Tropfen. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden, der Wind legte sich, es war schwül. Ich sah eine Hütte von Statskraft am Ufer, und dort in der Nähe baute ich auch mein Zelt auf. Die E-Leitung führte hier knapp am See vorbei.

Als das Zelt stand, machte ich es so wie gestern und warf alles, was ich hatte, samt mir selbst in das Innenzelt hinein und verschloss es gleich wieder. Heute musste ich nur vier Gelsen morden, die mit durchgeschlüpft waren. Ganz so arg wie gestern ist es also nicht, obwohl ich jetzt grade wieder dieses hohe Singen der Gelsen höre. Und zwischen Außen- und Innenzelt tummeln sie sich mittlerweile wieder in Scharen. Hoffentlich kommt gegen Abend wieder Wind auf, damit ich im Freien kochen kann. Denn noch ein Turmat mit kaltem Wasser vertrage ich nicht.

19:40

Um 3/4 4 hab ich's im Zelt nicht mehr ausgehalten. Gestern hatte ich ja Schlaf nachzuholen. Aber heute fühlte ich mich noch voller Tatendrang. Ich hab deshalb alles bis auf die Schuhe im Innenzelt angezogen, mich mit Gelsenspray eingesprüht und bin dann so rasch hinaus, dass offenbar keine einzige Gelse reingekommen ist.

Eigentlich wollte ich nur die nähere Umgebung erkunden. Deshalb hatte ich nicht einmal eine Wasserflasche dabei. Doch dann zog es mich unweigerlich in Richtung Stuorraleakši. Bei dem kleinen See in der Mitte des Weges wollte ich trinken. Doch das Wasser dort roch grauslig – eine Mischung zwischen Moder und Teer. Auch die Steine dort waren von einer schwarzen Schicht überzogen – vielleicht eine Verunreinigung im Zuge des E-Leitungsbaus?

Und dann hab ich zum erstenmal den Stuorraleakši gesehen! Er hat sich ein breites Tal mitten durch diese Halbinsel gegraben, auf der ich mich gerade befinde. Dieser Fluss ist von beiden Seiten schwer zugänglich, weil man durch die Steinwüste muss, um zu ihm zu gelangen. Und ich dachte mir immer: Wenn ich dort hingehe, kann ich ihn womöglich nicht furten, weil er zu breit und zu tief ist, oder zu reißend. Aber beim Näherkommen sah ich schon, dass er deutlich weniger Wasser führte als beispielsweise der Kongsfjordalselva, oder der Storelva bei Berlevåg. Sicherlich würde man nach einer passenden Stelle für die Furt suchen müssen. Aber ich erkannte aus den Radspuren an beiden Ufern, dass die Statskraft-Servicearbeiter den Fluss auch mit ihren hochgestellten Allradvehikeln, den Quads, durchquert hatten. Obwohl damals der Wasserstand vielleicht niedriger war als heute. Leider hatte ich keine Watsandalen mit, um die Furt selbst auszuprobieren.

 

Der Stuorraleakši mäandert durch ein breites, flaches Tal

 

Als ich zum Zelt kam, war es noch immer von Gelsenschwärmen bevölkert. Die fühlen sich wohl hier geschützt, mögen vermutlich auch Rot und Gelb und haben mit mir quasi ihre nächste Mahlzeit vor Augen. Ich hab dann beschlossen, mein Abendessen in der Klohütte, die zum Statskrafthäuschen gehört, zuzubereiten und zu essen. Es war sehr sauber drinnen, frisches Holz, hat auch gut gerochen. Und das Loch des Plumpsklos war ohnehin zugedeckt. Vor allem aber war keine einzige Gelse drinnen. Anschließend hab ich mich schnell wieder in mein Innenzelt verdrückt.

Naja, es hat wohl einen Grund, warum es hier so einsam ist. Ein paar Servicearbeiter, vielleicht auch der eine oder andere Jäger, der hier vorbeikommt. Und eben manchmal so Verrückte wie ich ...

 

 

Mittwoch, 14. Juli 2021

 

In der vergangenen Nacht hab ich zehn Stunden geschlafen. Erstaunlich. Die Gelsen scheinen jetzt weg zu sein. Es hat die ganze Nacht durchgeregnet. Im Moment tröpfelt es ein bissel. Es ist aber alles feucht. Die Brillen sind ganz beschlagen. Das Gewand fühlt sich feucht an. Über dem See hängt der Nebel. Heute gibt es also kein Frühstück mit Sonnenschein.

Bei diesem Wetter macht es keine Freude, nochmals zum Stuorraleakši zu wandern und die Gegend auf der anderen Seite des Flusses zu erkunden. Ich glaube, ich werde einen halbwegs trockenen Moment zum Zeltabbauen nutzen und dann nach Båtsfjord marschieren.

 

Im Nebel entlang der E-Leitung zurück nach Båtsfjord

 

Abend:

Bin also heute durch teilweise dichten Nebel entlang der Kraftlinje (dt. E-Leitung) zurück nach Båtsfjord. War eigentlich recht schön zu beobachten, wie die Nebelschwaden über die Landschaft gekrochen sind. Hab cirka 6 Stunden bis ins Dorf gebraucht und hatte gehofft, eine Nacht im Båtsfjord Brygge übernachten zu können. Aber dort war alles voll. Ich hatte keine Lust, weiter nach einem Quartier zu suchen, aß dort einen Lachs und fuhr dann mit dem Taxi nach Gednje, dem Ausgangspunkt für meine nächste Tour. In aller Eile hatte ich einige Portionen Turmat und Riegel eingepackt. Sodass ich jetzt 9 Turmat und 26 Riegel habe. Und damit wesentlich mehr Gewicht auf dem Buckel. Hier beim Lille Buevatn hab ich mein Zelt aufgeschlagen und Wäsche gewaschen. Ich genieße es, dass hier nur vereinzelte Gelsen sind. Auch die Sonne ist wieder herausgekommen.

 

 

II. Gipfelsturm auf einen 700er :-)

 

Beim Lille Buevann, dem Ausgangspunkt für meine nächste Wanderung, scheint die Sonne

 

Telefonat mit Freund Dieter aus Berlevåg: Offenbar kann er meine sms nicht empfangen, deshalb hab ich ihn angerufen, weil ich hier in Gednje noch guten Empfang habe. Er sagte, dass sie gestern bei der Wanderung nach Kvitnes auch ungewöhnlich aggressive Gelsen erlebt hätten. Der Wetterbericht, so Dieter, sagt für morgen und übermorgen Nacht jeweils Regen an, tagsüber am Freitag durchwachsen. Für die weiteren Tage seien nur graue Wolken eingezeichnet, was wohl unbestimmt heißt. Temperatur so zwischen 10 und 12 Grad. Falls das Wetter schlecht wird, hat er mir auch seine Hütte im Kongsfjorddalen als Unterschlupf angeboten. Das fand ich nett.

 

 

Donnerstag, 15. Juli 2021

 

Es war die ganze Nacht schön, und auch jetzt noch ist der Himmel fast wolkenlos. Eine leichte Brise weht, keine Gelsen. Ich bin so froh, dass ich diesen Tag hier genießen kann und nicht in Båtsfjord geblieben bin. Die Wäsche ist gewaschen und luftgetrocknet, die Batterien dank Solarpanel wieder voll. Ausgiebige Körperpflege inklusive Fußpflege (ganz wichtig!!!). Leider hatte ich beim Sonnentag in der Tømmervika die Sonnencreme und den Lippenschutz im Zelt vergessen. Deshalb bin ich zur Zeit ziemlich rot im Gesicht, wie ich im Restaurant im Spiegel gesehen hab. Und Fieberblasen hab ich mir auch geholt.

Ich hoffe, dass der Rucksack die neue Zusatzlast verträgt, ohne irgendwo zu reißen. Den Abfall der letzten Woche (6 leere Turmat-Beutel, in die ich die Verpackungsreste der Riegel hineingestopft hatte) habe ich leider in Båtsfjord vergessen dortzulassen. Deshalb habe ich sie hier unter ein paar Steinen deponiert und werde sie beim Rückweg wieder abholen.

17:50

Der Marsch auf dem Landsteg zwischen den beiden Buevatna (dt. Bueseen) war angenehm. Die Sonne hat geschienen. Die Goldregenpfeifer stießen ihre melancholischen Lockrufe aus. Und da waren weiße Vögel mit schwarzem Hals und braun-schwarz-weißer Zeichnung auf den Flügeln. Als ich eine Rast machte, lief einer von ihnen immer geschäftig um mich herum (in einigen Metern Abstand natürlich). Da kam plötzlich eine Möwe. Und ein zweiter von diesen kleinen Weißen flatterte der Möwe immer wieder todesmutig gegen den Körper. Er war wendiger als die Möwe und schlug sie schließlich in die Flucht, obwohl sie deutlich größer war als er.

Einmal kam ich an einem Nest mit drei grau-braun gesprenkelten Eiern vorbei. Und einige Meter weiter stand ich plötzlich vor einem graugefiederten Jungen, das sich an den Boden schmiegte und mich ängstlich aus großen Augen ansah.

 

Das Vogeljunge schaut mich ängstlich an

 

Als ich dann auf der anderen Seite des Landstegs am Store Buevatn war (stor bedeutet groß, liten bzw. lille heißt klein), ist mir ein dummer Fehler beim Navigieren passiert. In das Store Buevatn fließen so viele Bäche, dass ich den falschen erwischt hatte. Und es kostete mich einige Zeit und Mühe, bis ich quer übers Fjell zum richtigen hinübergelangt war.

Die letzte Steigung entlang des Flusslaufs war dann schon ziemlich anstrengend. und als sich das Tal erweiterte und da eine saftige grüne Wiese war, hab ich beschlossen, mein Zelt dort aufzustellen. Kaum hatte ich das Zelt aufgestellt, fing es zu tröpfeln an.

 

 

Freitag, 16. Juli 2021

 

01:20

Um Mitternacht bin ich durch heftigen Regen und den Wind aufgewacht, der das ganze Zelt durchgerüttelt hat. Leider habe ich zu spät bemerkt, dass der Wind den Reißverschluss des Vorzelts aufgerissen hat, sodass alles, was im Vorzelt gelegen ist, nass war > der Rucksack, die Regenjacke, meine 2 Paar Reservesocken und meine 3 frischgewaschenen Unterhosen. Eine der Unterhosen hat der Wind sogar aus dem Zelt hinausgetragen. Die liegt jetzt etwa 2 Meter entfernt in der Wiese. Und dort lasse ich sie auch vorerst. Er wird sie schon nicht noch weiter wegtragen.

Jetzt hab ich den Reißverschluss bis über die Lüftungsluke zugemacht, sodass der Wind weniger Angriffspunkte hat, um den Reißverschluss noch einmal aufzuzerren. Denn kaputt ist er ja nicht.

...

Bin dann doch nach draußen gegangen, hab die klatschnasse Unterhose hereingebracht und das Zelt rundherum kontrolliert und die Leinen nachgespannt. Ich bin froh, dass ich gestern für jeden Hering einen extra großen Stein zum Beschweren gesucht habe. Sonst hätte mir der Wind längst die Leinen von den Heringen gerissen, und das Zelt wäre über mir zusammengestürzt.

Da spürt man wieder, wie heftig die Elemente hier sein können. Tatsächlich Wildnis, wilde Natur. Vom Buevatn herauf kriecht auch wieder Nebel. Morgen soll ja laut Wetterbericht die Sonne herauskommen. Werden sehen ...

07:15

Als ich um 06:00 aufwache, scheint tatsächlich die Sonne. Es weht immer noch ein frischer Wind, aber lange nicht mehr so heftig wie in der Nacht. Gerade richtig, um die nassen Sachen zu trocknen.

Gerade zieht am Hügelkamm vielleicht 30 Meter von mir entfernt eine Rentierherde vorbei, schön im Gänsemarsch, eins hinter dem anderen. Vielleicht sind das die, die ich gestern bei meiner Ankunft von dieser Wiese vertrieben habe. Die schauen wohl, ob die Luft wieder rein ist.

 

Abend (meine Uhr ist stehengeblieben):

Ich habe also den 410er See erreicht. Beim Gehen ging's mir heute ganz gut, auch mit dem Rucksack. Und ich hab einen guten Weg gefunden. Drei Steinmänner hab ich heute gesehen. Und das zeigt mir, dass ich offenbar eine Route gewählt habe, die auch Einheimische bevorzugen. Ein paarmal hat es kurz und kräftig geregnet. Aber dann schien gleich wieder die Sonne. Jedenfalls bis zum nächsten Spritzer. Hier beim 410er habe ich einen sehr dürftigen Zeltplatz, auf ein paar Kråbærsträuchern, die sich zwischen den Steinen festgenistet haben. Die Heringe habe ich hier bei dem steinigen Untergrund nicht verwenden können. Stattdessen habe ich Steine in die Schlaufen der Zeltleinen gelegt. Der Boden ist hart, aber durch meine Luftmatratze spüre ich das nicht durch.

Am Ufer des Lille Leirpollvatn, das ich zunächst angepeilt hatte, hätte man nicht gehen können, weil dieser langgestreckte See tief eingeschnitten in einer Landschaftsfurche liegt und rechts und links die Bergflanken steil ins Wasser eintauchen. Aber rechts davon führte ein Tal hinauf, das zwar voll von mittelgroßen bis großen Steinblöcken war, unter denen das Wasser teils versteckt, teils sichtbar dahingurgelte. Es war ganz schön anstrengend, da von Block zu Block hinaufzuturnen. Oben wurde das Gelände aber besser. Und als der Bach nach rechts abbog, ging ich in der Furche, die die Landschaft hier bildete, weiter, bis es wieder bergab ging und ich den See 410 direkt vor mir sah. Auf der Karte sind namenlose Seen oft nur mit einer solchen Zahl versehen, die die Seehöhe angibt. Am höchsten Punkt dieser Tour sah ich auch rechter Hand zum erstenmal den Gipfel des Stangenestind hervorlugen.

 

Heute ging es zunächst dieses Tal entlang

 

Diesen idyllischen Platz kannte ich schon von früher

 

Rechts hinten zweigt das Steintal ab, durch das ich hinauf muss

 

Da unten liegt der 410er See, und ganz rechts lugt der Stangenestind hervor

 

 

Samstag, 17. Juli 2021

 

Soeben hat es zu nieseln aufgehört. Als ich zum erstenmal in der Nacht aufwachte, war der Himmel großteils blau, jedenfalls in meinem Sichtfeld. Und ich machte mir schon Hoffnungen auf den großen "Gipfelsturm". Naja, ein kurzer Nieselregen heißt ja noch nicht, dass das Wetter heute schlecht ist.

Mein Wanderhandy hat tatsächlich eine Zeitfunktion. Aber weil es so selten gebraucht wird, hat es total absurde Werte angezeigt. Ich hab deshalb gestern das richtige Datum und eine geschätzte Zeit eingegeben, um wenigstens relative Zeitabstände davon ableiten zu können.

07:15 (Schätzzeit)

Nachtrag zu gestern:

Es war ein wunderbarer Tag. Anfangs hörte ich noch ein paar Vögel, das Rülpsen der Schneehühner, aber auch paar kleinere Singvögel. Auch jetzt kann ich von draußen ein Vogelzirpen hören. Aber hier ist nicht nur die Vegetation karger, auch die Tierwelt. Rentiere hab ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Für die gibt es hier ja auch nicht mehr viel zu fressen. Dabei ist nicht sicher, ob die nächsten Seen genauso karg sind wie dieser hier. Denn die Vegetation hängt zwar prinzipiell, aber nicht nur, von der Höhe ab.

Auch das Von-Stein-zu-Stein-springen im Steintal hat irgendwie Spaß gemacht. Natürlich bin ich froh, wenn ich dann wieder einen weniger anstrengenden Weg vor mir habe. Aber das Steinspringen ist eine gute Konzentrations- und Gleichgewichtsübung. Und ein Test für die Griffigkeit der Schuhsohlen auf schrägen Flächen. Mir fällt immer wieder ein, wie Vati mit mir als Kind das Steinspringen geübt hat, weil das einfach zum Fortkommen im Gebirge gehört.

Gerade spüre ich durch die dünne Zeltwand, dass die Sonne ein bissel durchkommt. Ich werde jetzt mit der Morgenwäsche beginnen. Es hat aufgeklart und verspricht ein durchwachsener Tag zu werden, so wie gestern. Und ich wage den "Gipfelsturm" ohne Zelt. Hab allerdings jede Menge warmer Kleidung und Reserveriegel eingepackt, um im Notfall auch ohne Zelt überleben zu können.

Start 09:00 Schätzzeit.

 

Rückkehr knapp vor 20:00 Schätzzeit.

Ich war also inklusive Gipfelrast etc. cirka 11 Stunden unterwegs. Und ich habe den Stangenestind bestiegen!!! Ich habe es geschafft. Aber ich bin sooo erschöpft. So müde. Es war ein herrlicher Tag. Alles Weitere morgen.

 

 

Sonntag, 18. Juli 2021

 

Gestern bin ich todmüde ins Bett gefallen, bzw. in meinen Schlafsack. die Fußsohlen schmerzten (ich muss wieder zehenturnen!!), und ich wusste nicht, ob ich vor Kälte oder Erschöpfung zitterte. Aber mit Daunenjacke im Schlafsack wurde es bald richtig warm.

Jetzt scheint die Sonne auf mein Zelt. Der Himmel sieht durchwachsen aus. Eigentlich hab ich Glück mit dem Wetter. Es hätte viel unangenehmer kommen können. Ich bin seit ca. 02:00 wach und kann nicht weiterschlafen. Naja, das waren immerhin 5 Stunden Schlaf. Und die letzten Nächte waren ja umso länger.

 

Gestern also:

In der Früh schaute kurz die Sonne aus den Wolken. Und ich beschloss, doch das Zelt hier zu lassen und einen "Gipfelsturm" nur mit Tagesgepäck anzugehen. Während ich noch meinen Rucksack packte, begann es allerdings zu hageln und zu donnern. Aber ich ließ mich nicht beirren. Das Gewitter war auch rasch vorbei. Aber als ich im Sattel war, der hinüber zur Seengirlande führt (3 Seen sind an einem Fluss aufgefädelt, was zur Orientierung optimal ist, besonders bei Nebel), begann es heftig zu regnen, und ein eisiger Wind kam auf, der mir die Tropfen ins Gesicht trieb und vor allem die Brille mit Tropfen vollspritzte.

Aber ich war voller Energie und wild entschlossen weiterzugehen. Denn es gab bislang jedenfalls keinen Bodennebel, was wichtig ist. Und ich dachte, optimale Bedingungen wird es wohl kaum je geben.

 

Gewitterstimmung beim See 410; der kleine rote Punkt in Ufernähe ist mein Zelt

 

Der Weg über den Sattel war ein Klettern durch riesige Trümmerhaufen von zum Teil tischgroßen Felsblöcken, die wild durcheinandergewürfelt lagen. Als ich endlich bei See 397 war, sah ich dort eine Landzunge, wo ich einen besseren Zeltplatz gehabt hätte als beim 410er. Jedenfalls was den Untergrund anlangt. Vom See 397 gab es dann einen ebenfalls sehr steinigen Aufstieg entlang des Flusses zu See 450, Und beim letzten der Girlande, See 466, hörte der Regen auf. Aber der Wind war immer noch eisig, und meine Finger waren so klamm, dass ich bei den primitivsten Handgriffen Schwierigkeiten hatte.

Sogar beim Öffnen der Verpackung meines Jausenriegels hatte ich Schwierigkeiten. Ich bereute, dass ich die warmen Handschuhe vergessen hatte, die ich früher bei Zelttouren mit dabei hatte. Jedenfalls zog ich mir fast alles an, was ich an Schichten dabei hatte – über das Merionunterleiberl ein langärmliges Wollunterleiberl, darüber noch ein langärmeliges Merinoleiberl, darüber die Daunenjacke, und darüber den Anorak. Und die Finger versteckte ich zu Fäusten geballt in den Anorakärmeln. Denn die Stöcke brauchte ich hier oben nicht. Das Gelände war hier deutlich deutlich besser begehbar.

 

Stangenestind

 

Ich sah jetzt schon den Stangenestind in voller Pracht vor mir. Das Gelände öffnete sich dort oben zu einer weiten Ebene, in der der Berg stand. Deutlich waren auch die Längsrippen zu erkennen, die mir bereits auf der Karte aufgefallen waren. Im Grunde ist der Stangenestind nichts anderes als eine besonders große und beeindruckende Längsrippe, die alles andere in der Umgebung deutlich überragt. Auch das Hanglefjell, mit 619 Metern der zweithöchste Berg hier in der Gegend, ist ja so eine überdimensional große Längsrippe. Nach der Seengirlande passierte ich noch einen weiteren See, der sogar einen Namen hatte: Ahkkárgeazeláttu. Die Ortsnamen sind hier alle entweder zweisprachig, auf Norwegisch und Samisch. Oder nur auf Samisch. Der Stangenestind zum Beispiel heißt auf Samisch Stáŋganasčohkka. Manchmal geben die samischen Namen lautmalerisch das Norwegeische wider oder umgekehrt. Čohkka heißt offenbar Berg. Und der erste Teil des Namens erinnert sehr an Stangenes. Dabei dürfte dieser Name nicht auf eine besondere Form des Berges zurückzuführen sein, sondern von der nahegelegenen Landzunge namens Stangeneset herrühren (neset=die Nase; stang=Stange).

Das Wetter blieb nun ziemlich stabil. Mal schien die Sonne hier, mal dort und malte helle Flecken in die Landschaft. Große Teile des Himmels waren nach wie vor mit Wolken bedeckt. Aber sie waren hell gefärbt und nicht dunkel und regenschwanger.

Ich steuerte auf ein großes Schneefeld zu, dort wo der Stangenestind einen ersten Buckel über den sanften Ausläufern formt. Bald konnte ich auch erkennen, dass andere vor mir dort einen Steinmann gebaut hatten. Er war nicht sehr groß, aber doch weithin sichtbar sowohl von unten als auch von oben, um den Absteigenden auf dem breiten Bergrücken anzudeuten, hier ist die Stelle, wo ihr auf der Seitenflanke des Berges absteigen sollt. Diese überlegte Platzierung ist eine nicht zu unterschätzende Kunst, die die Menschen früher angesichts des Fehlens von befestigten Wegen entwickelt hatten.

 

Der Steinmann ist gut platziert und weithin sichtbar

 

Der Aufstieg über den langgestreckten Bergrücken, der sich wie der Zackenkamm eines uralten riesigen Drachen in die Höhe wölbte, war zwar beschwerlich. Aber ich war so begeistert, dass mich das kaum tangierte. Beinahe jeder Schritt höher eröffnete neue Ausblicke in die weite Landschaft.

Bald sah ich den Tanafjord und das Tal der Goskesvakjohka, von deren Oberlauf ich bei meinem ersten Versuch, den Stangenestind zu besteigen, gestartet war. Vom Gulgofjord über das Slipsteinfjellet kommend. Bis mich dann der vom Meer heraufkriechende Nebelwurm zum Abbruch der Tour bewegte. 

Im Osten sah ich einige Bergrippen. Und ich war mir nicht sicher, welche davon das Hanglefjell war. In Richtung Berlevåg im Norden sah ich den dortigen Windpark. Die Windräder waren hell von der Sonne beschienen und säumten den Bergrücken. Sogar den charakteristischen Gupf des Tanahorns glaubte ich zu erkennen. Und als ich schon fast den Gipfel erreicht hatte, öffnete sich in Richtung Nordwesten ein wunderbarer Ausblick auf den Meeresarm des Leirpollen und das breit zwischen Sandbänken mäandernde Delta des Tanaflusses, dessen verschlungene Wasserarme hell im Gegenlicht glänzten.

Und dann war ich auch schon oben. Auf 725 Metern Seehöhe. Der übermannshohe Gipfelsteinmann war in Richtung Wetterseite (Norden) offenbar angenagt. Die Felsblöcke hatten sich dort aus der kunstvollen Aufschichtung gelöst und lagen verstreut übereinander.

 

 

Ausblick auf den Leirpollen

 

Der Doppelgipfel des Stangenestind

 

Gedanken gehen mir durch den Kopf, wie ich da so oben auf dem Gipfel sitze. Warum mache ich sowas? Was ist der Reiz, der immer wieder Menschen dazu bringt, schwer erreichbare Gipfel zu besteigen? Für andere sind es vielleicht die Alpenriesen oder die Himalayagipfel. Für mich ist schon der Stangenestind eine herausfordernde Expedition.

Ich denke, das eine ist, dass man bei so einer Expedition in völliger Einheit mit sich selbst ist. Körper, Emotionen und Geist sind im Einklang, völlig im Hier und Jetzt. Alle drei tragen zum Gelingen bei. Dem Körper tut es gut, sich so richtig zu verausgaben und die eigene Kraft, aber auch die eigenen Grenzen zu spüren. Emotionell sind es vor allem Eigenschaften wie Ausdauer und Geduld, die hier zählen. Aber eben auch Freude und Begeisterung und Neugier. Und die Fähigkeit, alles so anzunehmen, wie es kommt. Nicht gegen die Elemente aufzubegehren, was sowieso nichts hilft, sondern mit den Elementen zu gehen, mit ihnen quasi eins zu werden und so an ihrer Kraft teilzuhaben. Und der Geist ist derjenige, der plant, der je nach Situation immer wieder neue Entscheidungen trifft. Kleine, wie die Frage, ob ich den See links oder rechts umrunde, bis zu dem Entschluss, trotz Hagelwetter zum Stangenestind aufzubrechen.

Doch das ist nicht alles. Berge waren seit jeher etwas Besonderes. In schamanistisch geprägten Kulturen gelten sie oft als heilig. Mag sein, dass die Menschen sich dort oben dem Himmel näher fühlten. Tatsache ist, dass es ein erhebendes Gefühl ist, die Weite der Sicht vom Gipfel aus zu genießen, den Überblick, die Vogelschau. Und gewissermaßen dominiert so ein Berg ja auch die Umgebung, die von seinem Gipfel aus sichtbar ist. Er beeinflusst das Wetter, indem er Wolken abregnen lässt. Auch sonst hat er spürbaren Einfluss auf das lokale Klima. Ich bin überzeugt, so wie ein mächtiger Baum ein ganzes Habitat an Lebewesen beherbergt und beeinflusst, tut das auch ein Berg.

Beim Abstieg vom Gipfel wurde mir dann bewusst, wie vielfältig die Flora selbst in dieser kargen Gegend ist. Selbst in der Steinwüste des Stangenestind finden sich immer wieder mal kleine Flecken mit Erde und Gras- oder Moosbewuchs. Beinahe jede dieser kleinen Oasen ist mit anderen Pflanzen bevölkert. Und auf der Ebene zu Füßen des Berges scheint wieder der Gletscherschliff am Werk gewesen zu sein. Denn die Steine sind dort großteils klein und flach, oft in Sand eingebettet. Und immer wieder sprießen Gräser und kleinste Blümchen dort hervor. An einer Stelle sogar eine vorwitzige Zwergbirke, die mir grade mal bis übers Knie reicht. Ich sehe auch Rentierdung. Also dringen diese genügsamen Tiere sogar bis hierher vor, vielleicht weil die spärlichen Gräser hier besonders gut schmecken.

Am Abend war auch wieder eifriges Vogelgezwitscher zu hören. Als ich zum See 466 kam, kreiste eine nervöse Möwe über mir. Offenbar hatte ich mich ihrem Gelege genähert. Sicherheitshalber hielt ich einen meiner Wanderstöcke mit der Spitze in die Höhe. Denn Möwen können mit ihren gezielten Angriffsflügen auf den Kopf des Eindringlings (hier: mich) ganz schön ungemütlich werden. Oft zischen sie nur knapp über den Kopf hinweg, in einer Art Schaukelbwegung, um dann von der anderen Seite den nächsten Angriff zu starten. Ein in die Höhe gehaltener Wanderstock wirkt da Wunder. Erstens zielen Vögel immer auf den obersten Punkt ab, und der wäre dann einen guten Meter höher. Und zweitens scheinen sie einen dann nicht mehr als Feindobjekt zu erkennen oder jedenfalls verwirrt zu sein, weil sie dann erfahrungsgemäß nach kurzer Zeit ihre Attacken einstellen und wegfliegen.

Auch ein Schneehuhn störte ich im Vorbeigehen kurz in seiner Ruhe. Auf Norwegisch heißen sie “Ryper”, was eine lautmalerische Bezeichnung für ihre rülpsenden Geräusche ist.

Das Gelände begann nun wieder schwieriger zu werden. Die Felsblöcke wurden größer. Das erleichterte allerdings auch das Überqueren der Flussläufe, die sich zwischen den Felsen oft über die ganze Talbreite ergießen. Da konnte man dann bisweilen 20 oder 30 Meter von einem Stein zum anderen hüpfen.

Auf der gestrigen Tour musste ich nur ein einziges Mal die Watsandalen anziehen, weil der Fluss zwischen See 450 und 466 immer wieder Wasserbuchten und Ausläufer bildete und ich plötzlich vor einem etwa zwei Meter breiten, stillen Wasserlauf stand, den ich nur sehr weitläufig umrunden hätte können. Die Furt war harmlos, so wie die meisten auf dieser Tour.

Als ich dann auf dem Heimweg den Sattel zwischen See 397 und “meinem” 410er erreichte, begann es auch wieder zu regnen. Mittlerweile sprang ich nicht mehr von Felsblock zu Felsblock. Eher torkelte und wankte ich und versuchte mich zu konzentrieren, damit ich wegen der Müdigkeit keine Fehltritte machte. Elf Stunden war ich also unterwegs gewesen. Und viel mehr hätte ich wohl nicht geschafft.

Gerade ist mir die Idee gekommen, dass meine Kamera eigentlich die richtige Zeit anzeigen sollte. Tatsächlich. Es ist jetzt genau 08:28. Also ziemlich genau eine Stunde später als die “Schätzzeit”, die ich auf meinem Handy eingegeben hatte.

Der heutige Tag scheint übrigens sonnig und freundlich zu werden. Wäre schön gewesen, wenn ich auch gestern so ein Wetter gehabt hätte. Andererseits, das Aushalten kleiner Widrigkeiten gehört dazu.

 

 

Montag, 19. Juli 2021

 

So, jetzt hab ich mir einen heißen Kaffee und Tee gemacht. Das musste einfach sein. Ich weiß nicht, wie kalt es ist. Aber heute hab ich in der Nacht zum erstenmal trotz Daunenjacke im Schlafsack gefroren. Erst als ich auch noch das Daunengilet anzog und den Schlafsack bis auf ein kleines Atemloch oben zuschnürte, ging es. Geschlafen hab ich dann aber hervorragend und ausgiebig, wieder so an die zehn Stunden. Draußen regnet es seit dem späteren Abend. Es wird Zeit, dass ich auf die Hütte komme, die mir Dieter als Unterschlupf angeboten hat. Ich hoffe, ich schaffe es heute bis dorthin. Ich fühle mich jedenfalls heute viel ausgeruhter als gestern. Nach dem Aufwachen bin ich zum Bach geflitzt. Auf der nackten Haut macht der Regen nichts. Und ich habe mich dann gleich mit beiden Füßen in den Bach hineingestellt und von oben bis unten gewaschen. Das Wasser war eiskalt, aber nachher habe ich mich sehr erfrischt gefühlt.

Vorher hat die Sonne kurz durch die Wolken gelugt. Und in Richtung Buevatn ist der Himmel auch etwas heller, nicht ganz so dunkelgrau. Ich hoffe, dass noch eine Regenpause kommt und der Wind mein Zelt etwas trocknet, bevor ich es abbaue. Aber leider nieselt es schon wieder ...

Definition von Luxus:

Auf der Hütte war es Luxus, wenn ich Milch für meinen Kaffee oder etwas Obst und Paprika als Zukost hatte. Hier im Zelt ist es schon Luxus, überhaupt Kaffee zu haben, noch dazu einen warmen. Oder einen weichen, ebenen Zeltplatz zu haben wie heute. Ich finde, man lernt auf so einer Zelttour all die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens wirklich zu schätzen.

Wow, und der größte Luxus ist natürlich die Sonne, die gerade mein Zelt zaghaft zu wärmen begonnen hat. Und am Himmel sehe ich nun blaue Flecken. Es wird also doch kein trüber Regentag.

 

ca. 19:00

Ich bin seit etwa zwei Stunden in der Hütte von Daniela und Dieter. Und ich genieße es. Habe den Holzofen eingeheizt, um meine nassen Sachen zu trocknen und mich zu wärmen. Draußen hat es neun Grad. Und ich habe mir ein Stamperl Cognac genehmigt, und dann einen heißen Kaffee und Storfegryte, will heißen Rindereintopf.

Wer hätte gedacht, dass nach diesem verregneten Morgen sich ein so schöner Tag entwickeln würde. Ich hatte auf meinem Rückweg zum Lille Buevatn großteils Sonnenschein und klaren Himmel. Hinter mir allerdings begann sich unbemerkt eine Wolkenwand aufzubauen. Und als ich meinen alten Zeltplatz beim Lille Buevatn fast erreicht hatte und meinen dort deponierten Abfall suchte, um ihn wieder an mich zu nehmen, begann es kräftig zu regnen. Beim See begegnete mir auch ein Fischer, der erste Mensch seit fünf Tagen. Außer einem “Hei” und einem “Heio” haben wir aber nichts miteinander geredet. Ich marschierte im Regen zur Straße und hoffte inständig, dass mich ein Auto mitnehmen würde. Denn erstens war ich sehr müde, und zweitens hatte ich keine Lust, 9 km auf der Straße zur Hütte zu gehen. Also hielt ich den Daumen empor. Das erste Auto fuhr vorbei. Dann kam ein Lastwagen, den ich gar nicht erst zu stoppen probierte. Dann kam lange nichts. Ich wollte schon zur alten Straße einbiegen, um mich auf den Fußmarsch zu begeben. Da kam doch noch ein Auto – und hielt.

Es war ein sehr netter Norweger aus Telemark, der sich hier heroben für ein halbes Jahr ein Haus in Kongsfjord gemietet hatte und sich hier in der Gegend erstaunlich gut auskannte. Heute hatte er seine Frau zum Flughafen nach Kirkenes gebracht und war nun auf der Rückfahrt. Als ich von meiner Tour auf den Stangenestind erzählte, wusste er sofort, dass es sich dabei um den höchsten Berg der gesamten Varangerhalbinsel handelt. Er meinte, er werde den Stangenestind vielleicht auch besteigen, aber von der Wasserseite aus. Dort gebe es einen steilen, aber kurzen Aufstieg, der nur 4 Stunden dauere. Kleiner Haken: Der Ausgangsort an der Küste ist nur mit einem Boot erreichbar. Er sei auch schon in Österreich gewesen, in Salzburg, Seefeld etc., wo es Berge gibt. Jedenfalls eine sehr nette Begegnung. Und ich will mich auf der Hütte jetzt erst einmal ausrasten, morgen einen faulen Tag einlegen und meine Muskeln in Ruhe wachsen lassen (ein Reha-Trainer hatte mir einmal erklärt, dass Muskeln nur im Ruhezustand wachsen können, weshalb es wichtig sei, immer wieder mal Ruhepausen bei längeren Touren einzuplanen).

 

 

Dienstag, 20. Juli bis Freitag, 23. Juli 2021

 

Beschauliche Tage auf der Hütte.

 

 

III. Ausklang in einem alten Fischerdorf

 

Samstag, 24. Juli 2021

 

Bin um 4:00 aufgestanden, um die Hütte noch sauber zu machen. Draußen peitscht heftiger Wind die Regenböen durch die Luft. Und der Himmel ist eintönig grau, als wüsste er nix von Wetterbesserung. Das Thermometer zeigt prickelnde 6 Grad. Aber es hilft nix. Ich habe hier absolut nix mehr zu essen, möchte auch die Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Und wenn ich im Syltefjord noch eine ordentliche Tour zusammenbringen will, wird es außerdem langsam Zeit.

 

Abend:

So ein schöner Platz! Ich bin im Syltefjord-Sandfjorden. Hier gibt es eine sehr stabil gebaute Brücke über den Fluss und zwei moderne Hütten, sowie ein paar alte, verfallene. Die schönste davon steht ganz nah vor meinem Zelt. Eine Inschrift auf der Brücke besagt, dass dies hier von 1850 bis 1950 ein “fiskevær og poststed” war, also ein Fischerdorf, das ans Verteilernetz der Post angeschlossen war. Die Brücke selbst wurde laut Inschrift 1936 gebaut.

Die Wiese ist hier so üppig und grün, dass man locker einige Schafe ernähren könnte. Und die Aussicht ist wunderbar – hinüber zur Hamningberg-Halbinsel, und aufs offene Meer hinaus. In der Bucht habe ich bereits einen Schwarm Möven beobachtet. Die nahe Vogelklippe, Stauran, kündigt sich an. Dort werde ich morgen entlang der Küste hinwandern. Heute bin ich zu müde.

 

Syltefjord-Sandfjorden

 

Alte Fischerhütte vor meinem Zelt

 

Der rechte Fuß bzw. die Ferse taten mir ziemlich weh. Außerdem hatte ich heute wieder das volle Gewicht im Rucksack. Essen für achteinhalb Tage.

In Båtsfjord wollte ich mir ja eine Sportsalbe kaufen für meinen Fuß. Die gibt es dort aber nicht. Obwohl das Sportgeschäft mangels einer eigenen Apotheke im Ort Medikamente verkauft, hatten sie nur eine “Utrolige universalsalve” anzubieten, also eine “unglaubliche Universalsalbe”. Alle nehmen die hier, wenn sie irgendwelche Wunden, Schmerzen oder Verletzungen haben, sagt die Verkäuferin. Das erinnert mich an dieses kleine Geschäft in Ostisland, wo uns der Verkäufer ein Hausmittel gegen Erkältung verkaufte, “das alle hier nehmen”.

Die unglaubliche Salbe riecht ein bissel nach Kräutern, und ich habe vor dem Abendessen meinen Fuß damit eingerieben. Werden sehen. Das sanfte Einmassieren wird wohl auf jeden Fall gut tun ...

Heute war mein “Sozialtag”. Es begann in der Früh, als ich von der Hütte losstartete. Freundlicherweise kam die Sonne raus. Da fühlte ich mich gleich wohler. Nach etwa einem Kilometer auf der Straße, kurz vor dem Parkplatz beim Buetjern, blieb dann ein Auto stehen und nahm mich nach Gednje mit. Es waren zwei ältere Männer, die Dieter gut kannten und mit ihm sogar in irgendeinem Vereinsvorstand sitzen. Und eine Asiatin, die nur englisch sprach. Die zwei Männer meinten, ich solle von Gednje aus weiterstoppen bis nach Båtsfjord, das wäre sicher kein Problem. Was ich dann auch tat. Und das zweite Auto, das vorbeifuhr, blieb stehen. Diesmal war es ein Ehepaar aus Südnorwegen, die den Wohnwagen in Tana stehen hatten und so schnell mal an einem Tag ein gutes Stück der Eismeerküste mit dem Auto abfuhren – Båtsfjord, Syltefjord, Berlevåg. Die Orte weiter im Osten, also Vardø und Vadsø, kannten sie von früher.

Im Brygge kam ich gerade noch rechtzeitig zum Frühstück. Diesmal war Monika da und begrüßte mich freundlich, bot mir sogar eine Dusche an. Aber ich sagte, ich käme grade von der Hütte, da sei das nicht notwendig. Dort konnte ich ja das eiskalte Flusswasser am Herd wärmen für die tägliche Morgenwäsche. Aber ich fand diese Geste von Monika sehr nett. Hab mir dann den Bauch vollgeschlagen mit Spiegelei und Speck, und einem großen Schinkenbrot mit Käse. Plus einem Nachtisch mit Ananas und Melone. Hab dann die restlichen Sachen eingekauft bzw. im Brygge aus meinem Koffer die Vorräte ergänzt. Eine Enttäuschung war, dass es in der Tankstelle diesmal nur große Gaskartuschen gab. Eine mittelgroße hätte nämlich völlig gereicht für mich und wäre leichter gewesen. Naja.

Ein Taxler hat mich dann zum Syltefjord gefahren. Diesmal war es deutlich teurer, über NOK 11.000,-, obwohl es kilometermäßig nicht viel weiter als bis nach Gednje war, wo ich knapp über NOK 800,- gezahlt hatte. Naja, ist okay.

Syltefjord ist DAS Erholungs- und Feriengebiet hier heroben, Store Molvik zum Quadrat. Wirklich sehr schön gelegen, inmitten von grünen Hügeln. Den Fluss entlang gibt es sogar einen Saum mit richtigen Birken. Campingplätze sind hier, Hütten sowieso. Und direkt am Fjord, in dem winzigen Ort Nordfjord, dann auch eine kleine Kirche, eine Touristeninfo, ein Café und nach Angabe des Taxlers auch Zimmer zu vermieten (was sich aber später als falsch herausstellte). Als ich fragte, ob die Straße hier im Winter geräumt wird, meinte er, nein. Seit die Leute hier gegen Ende des vorigen Jahrhunderts weggezogen seien, sei die Straße im Winter nur mit Schneemobilen befahrbar.

An der Küste entlang Richtung Syltefjord-Sandfjorden gab es zunächst einen richtig schönen Weg. Und mir begegneten auch ein paar Leute. Zuerst zwei befreundete Familien, dann ein Schweizer Ehepaar, mit denen ich nett geplaudert habe. Die waren glücklich darüber, dass die Beeren schon reif sind. Und ich habe dann ebenfalls geschlemmt – Heidelbeeren, Multebeeren, Preiselbeeren, Krähenbeeren (letztere hab ich allerdings nur kurz gekostet, sie schmecken zwar würzig, aber auch ein bissel trocken).

Als ich mich weiter vom Ort Nordfjord entfernte, wurde das Gehen etwas mühsamer. Der Weg verschwand immer wieder, und ich musste am Meeresufer über ausgedehnte Stein- und Geröllhalden turnen. Und ich war nun ganz allein. Oder doch nicht ganz. Da waren auch ein paar Rentiere, die neugierig zu mir herüber lugten, bevor sie sich dann doch vorsichtshalber im Eilschritt ein Stück entfernten. Und das Wetter war eigenartig. Denn mir ist heute passiert, was mir schon einmal auf Island passiert ist; Ich war vorne und hinten, rechts und links von Regenschleiern und dunklen Wolken umgeben. Nur dort, wo ich war, haben sich am Himmel blaue Flecken gezeigt, und die Sonne hat herausgeschaut. Nur manchmal hab ich ein bissel Nieselregen abbekommen, was zu den schönsten Regenbögen geführt hat. Als ich über den Sattel ging, der zum Sandfjorden hinüberführt, wanderte die Sonne mit. Und als ich den Fjord vom einen zum anderen Ende querte, was einige Zeit in Anspruch nahm, wanderte die Sonne ebenfalls mit. Ich hab mich jedenfalls sehr über dieses Schauspiel gefreut.

Jetzt am Abend ist hier aber ein kalter Wind aufgekommen. Und ich hoffe, dass ich nicht friere in der Nacht. Angeblich soll das Wetter ja deutlich wärmer werden. Und für Montag und Dienstag hat der Wetterbericht richtig schöne Sonnentage angekündigt. Das sind angenehme Aussichten. Werden sehen, wie es morgen dank Wundersalbe mit dem Gehen klappt. Das Gute ist jedenfalls, dass mein Fuß überhaupt nicht mehr geschwollen ist. (Meine Freundin, die Ärztin ist, diagnostizierte später, dass es sich bei meinem Fußproblem wohl um einen beginnenden Fersensporn gehandelt haben muss. Da helfen am besten regelmäßige Dehnübungen, die ich auch seither mache.)

 

 

Sonntag, 25. Juli 2021

 

In der Nacht war es überraschend warm. Ich hab mich Schicht für Schicht aus dem Zusatzgewand herausgeschält, das ich mir sicherheitshalber angezogen hatte, bis ich nur noch in der langen Unterwäsche im Schlafsack gelegen bin. Und das hat dann gepasst. Ich hab auch ganz gut geschlafen. Jetzt ist es 6:05. Wie schön, dass ich wieder eine funktionierende Armbanduhr habe (in Båtsfjord habe ich die Knopfbatterie für meine Armbanduhr austauschen lassen). Und mein idyllischer Zeltplatz hat sich in weniger romantisches Nebelgrau gehüllt. Es hat die ganze Nacht geregnet und regnet auch jetzt noch. Nicht sehr intensiv. Aber zusammen mit dem kalten Wind reicht es für einen ungemütlichen Morgen.

Meiner Ferse geht es hier im Zelt ganz gut. Aber auch auf der Hütte hab ich sie ja dann kaum mehr gespürt. Jedenfalls habe ich schon wieder Gedanken, vielleicht doch von hier weiterzuziehen. Jetzt einmal zum Stauran. Und heute nachmittag oder morgen das Flusstal des Sandfjordalselva hinauf.

Ich habe mir auch überlegt, wie die wohl früher hier gelebt haben. Wahrscheinlich in jedem dieser Häuschen eine ganze Großfamilie, so wie auf Island. An Sonntagen sind sie wohl die paar Kilometer hinüber nach Nordfjord in die Kirche gewandert. Und an den Samstagen sind vielleicht die Jungen zum Tanzen hinübermarschiert. Gelebt haben sie vom Fischfang, vielleicht auch von ein paar Schafen und von Vogeleiern vom nahegelegenen Vogelfelsen. Und im Spätsommer auch von Beeren und Pilzen. Möglicherweise gab es auch einen mit spärlichen Steinmännern gekennzeichneten Weg übers Fjell nach Makkaur. Oder sie sind mit den Booten dorthin gefahren. Gewand haben sie wohl selbst gewebt, gesponnen, gestrickt, genäht. Und wenn du in dieser intimen Dorfgemeinschaft eine Außenseiterstellung hattest, dann hattest du's wohl ziemlich schwer. Ja, und an den langen Winterabenden haben sie sich vermutlich gegenseitig Geschichten erzählt.

Wenn es die ganze Zeit so nieselt wie jetzt, ist die einzig sinnvolle Möglichkeit der Morgenwäsche, nackt zum Bach zu flitzen und sich so zu waschen, am besten mit den Füßen im Wasser, damit die gleich mitgewaschen werden und du dich nicht über irgendwelche Uferböschungen beugen musst. Das kostet zwar einige Überwindung, ist aber dann letztlich ungeheuer erfrischend. Vor allem wenn man zurück im Zelt ist und sich die frischen Sachen anzieht.

15:30

Das Schöne an der großen Gaskartusche ist, dass ich mir ohne zu überlegen einen Nachmittagskaffee machen kann, so wie jetzt. Gerade hat es noch so ausgeschaut, als könnte ich ihn in der Sonne trinken, die nun doch endlich durchgekommen ist nach einem verregneten Vormittag und Mittag. Aber es war nur ein kurzes Wolkenfenster. Im Moment geht mir diese Dauernieselei gehörig auf den Geist. Vor allem deshalb, weil ich nach den Berichten der Leute in Båtsfjord besseres Wetter erwartet hatte.

Am Vormittag hab ich eine Leseeinheit engelegt. Ahmad Ghazali, Remembrance and the Metaphysis of Love. Als dann die Nieselei zu mittag aufhörte, machte ich mich auf den Weg zum Stauran. Zuerst untersuchte ich allerdings meine Lieblingsfischerhütte. Sie ist in erstaunlich gutem Zustand, von dem Gerümpel abgesehen, das drinnen herumliegt. Und sie ist perfekt konstruiert. Wie in einer Schiffskoje ist jeder kleinste Raum genutzt. Wenn man reinkommt, ist geradeaus die Tür zum Plumpsclo. Dann kommt man linker Hand in einen kleinen Vorraum, wo links ein Bretterverschlag mit dem Bett ist. Einer hat dort bequem Platz, zwei auch, wenn sie sich gern haben. In diesem Vorraum steht ein kleiner Ofen. Und dann kommt man in die Wohnküche. Da muss man aufpassen, dass man nicht ins offene Kellerloch hinunterfällt. Es gibt einen Herd, eine Sitzbank, Fächer fürs Geschirr. Die Häferl sind an Nägeln an der Wand aufgehängt. Und wie gesagt, jede kleine Nische wird als Stauraum für irgend etwas genutzt. Im Garten vor dem Haus befindet sich ein Holzfass in Auflösung sowie eine dieser schweren Eisenschüsseln, die sich hier überall finden. Haben sie da vielleicht die Fische hineingetan?

Das Fischerdorf hier war übrigens gar nicht so klein. Den Ruinen und alten Fundamenten nach zu schließen schätze ich, dass es hier 15 bis 20 Häuser gab. Ich entdeckte auch angelegte Wege, inklusive einer bequemen Strandpromenade. Eine weitere Hütte, die auch noch ganz gut erhalten ist, war offenbar für eine vierköpfige Familie, mit zwei Stockbetten im Schlafzimmer und einer vergleichsweise geräumigen Stube. Witzig fand ich auch, dass bei einer anderen, halb demolierten Hütte eine Steinmauer nicht nur zur Abgrenzung des Grundstücks über die Wiese führte, sondern auch mitten durch den angrenzenden Teich. Damit die Tiere dort nicht ausbüchsen konnten? Oder um etwaige Fische im Teich zuzuordnen? Oder des ungestörten Badvergnügens wegen?

 

Strandpromenade

 

Der Steinzaun geht mitten durch den Teich

 

Gerade ist draußen eine Gruppe Wanderer mit Hund und Kind über die Brücke gegangen. Die sind vorhin in Richtung Stauran marschiert. Aber weit sind sie offenbar nicht gekommen. Kein Wunder. Auf dem Wegweiser drüben in Nordfjord stand so schön, 7 km bis Syltefjord-Sandfjord, und 11 km bis zum Stauran. Was nicht dabei stand war, dass man den Stauran entlang der Küste gar nicht erreichen kann, weil die Klippen immer wilder werden. Man muss oben übers Fjell gehen, wie ich später entdecken sollte. Denn an der Küste ziehen sich immer wieder einige Meter hohe Felsrippen zum Meer hinunter. Und kaum hast du die eine überwunden, türmt sich die nächste vor dir auf. Anfangs waren zwischendurch noch kleine ausgetretene Pfade zu sehen, oder die Leute hatten zwei, drei Steine dort hingelegt, wo man gut weiterkommt. Aber auch das hörte sich nach und nach auf. Und irgendwann hatte ich von der Kletterei über die steilen und gleichzeitig nassen, rutschigen Felsen die Nase voll. Draußen am Meer fuhr ein kleines Motorboot vorbei. Vielleicht, damit die Touristen den Stauran vom Wasser aus beobachten können? Nach einer kurzen Weile kam das Boot jedenfalls wieder zurück. Wenn wenigstens Möwen zu sehen oder zu hören gewesen wären. Aber bis auf ein paar Einzelexemplare, die sich ja immer irgendwo finden, gab's auch das nicht. Und da hab ich mir gedacht, ich hab schon so viele Vogelfelsen gesehen, ich muss da jetzt nicht hin. Und drehte um.

Ich hab meine Übungen heute nur rudimentär gemacht. Denn draußen geht es nicht, es regnet schon wieder. Und im Zelt kann ich nicht einmal aufrecht sitzen, nur gebückt. Oder liegen.

 

 

Montag, 26. Juli 2021

 

Normalerweise stellt man ja nicht schon zu mittag das Zelt auf. Aber mir war sooo kalt! Anstatt eines wunderschönen Sonnentags wie angekündigt ist dieser Montag grau und kalt. Zugegeben, geregnet hat es bis jetzt vor allem auf der anderen Seite des Fjords. Aber auch ich hab einige Tropfen abgekriegt. Die Sonne kommt manchmal zwischen den Wolken hervor oder schimmert zumindest durch. Aber sie kann sich nicht durchsetzen. Dafür bläst ein eisiger Wind. Mir war beim Gehen mit dem schweren Rucksack bergauf kalt, obwohl ich unter dem Anorak die Daunenjacke an hatte. Wie ich dann auch noch gesehen hab, dass die Grauschleier da oben um den Fjellgipfel herumziehen, hab ich die Nase voll gehabt. Bei so einem Wetter geh ich nicht übers Fjell. Das ist mir zu riskant. Ich hab hier bei einem kleinen Teich mit wunderschönen Wollgrasinseln mein Zelt aufgestellt. Falls sich die Sonne am Nachmittag noch durchsetzt, bau ich es vielleicht heute noch ab. Und falls morgen wieder ein grauer, kalter Tag ist oder es sogar regnet, breche ich das Projekt Hochlandquerung von hier übers Fjell nach Båtsfjord hinüber ab. Jedenfalls bin ich froh, einen warmen Tee im Magen zu haben und vor dem Wind geschützt zu sein.

Bin heute übrigens um 6:00 Früh im Sandfjorden gestartet und das Tal des Sandfjorddalselva raufgegangen. Es ist ein sehr schönes Tal, auch gut zu gehen. Bis jetzt jedenfalls. Aber hier, wo ich bin, beginnt die Steinwüste. Da wird es dann beschwerlicher.

 

22:00

Ich bin heute schon zu müde zum Schreiben. Nur soviel: Es war ein wunderbarer Tag. Es war ein anstrengender Tag. Und ich bin auch an meine Grenzen gestoßen.

 

 

Dienstag, 27. Juli 2021

 

Wow, das ist Luxus! Ich hab bis 7:00 geschlafen. Und dann hat mich die Sonne geweckt. Es ist klarer Himmel, auch wenn draußen vom Meer her eine dicke Wolkendecke in Bodennähe dahinkriecht. Aber ich bin hier auf 350 m Seehöhe, mich tangiert das nicht – vorerst. Und ich genieße diesen Morgen, wo ich nicht in Eiseskälte und Regen zum Bach flitzen muss, sondern mich in Ruhe nach dem Frühstück waschen kann, heute auch die Haare.

Draußen vor dem Zelt plätschert ein Bach vorbei. Es ist sogar windstill. Und grade wollte ich schreiben, es gibt auch keine Gelsen, aber da kam eine daher. Sie sind jedenfalls nicht zahlreich.

 

Gestern also. Nachdem ich am späten Vormittag mein Zelt am Fluss (Sandfjorddalselva) aufgeschlagen hatte, wegen dem eisigen Wind und der dicken Wolkendecke, schlief ich für eine Stunde ein. Und als ich aufwachte, war die Sonne immer so mal da, mal hinter Wolken. Aber es war ein erhebliches Stück blauen Himmels zu sehen.

Ich hab also gestern das Zelt zusammengepackt und bin weiter flussaufwärts. Und obwohl es dort von meinem Zeltplatz aus bereits recht steinig ausgesehen hatte, fanden sich entlang des Flusses doch immer wieder regelrechte Grünoasen. Es kam nur selten vor, dass ich über Stein- und Blockhalden turnen musste. Schließlich erreichte ich See 361, einen der beiden Quellseen des Sandfjorddalselva. Dort war aber wirklich Steinwüste angesagt. Und dort machte ich auch meinen Fehler. Ich hielt mich zu weit links und folgte dem leichter gangbaren Gelände. Bestärkt wurde ich darin, weil genau dort auch immer wieder rote Plastikstangen herumlagen, die sie hier im Winter gern als Markierung für Schneemobil-Routen verwenden. Doch es stand ja nirgends, wohin diese “Loipe”, so es denn eine war, hinführen sollte. Im Winter sausen sie mit diesen Dingern hier ja überall herum – über zugefrorene Seen, über Stein- und Blockhalden, die dann von Schnee bedeckt sind ...

Mir war bewusst, dass ich mich zu weit links hielt, aber ich dachte mir, das ist nicht so viel. Und ich muss ja auf der anderen Seite der Wasserscheide nicht einen Punkt treffen, sondern ein Flusstal, das quer daherkommt. Das Teuflische im Hochland ist aber, wenn du dich nur ein kleines Stück drehst, kommst du gleich ganz woanders raus. Man kann sich das vielleicht so vorstellen, dass man auf einem Polpunkt des Globus steht. Und man will eigentlich nach Alaska. Aber dann folgt man einem Gelände, das ein bissel gehfreundlicher aussieht und nur ein bissel weiter rechts ist. Und dann landest du plötzlich bei den japanischen Inseln.

Dazu kommt, dass meine Kompass-Navigationskenntnisse wirklich äußerst rudimentär sind, und ein GPS hatte ich leider nicht dabei. Ehrlich gesagt, kann ich mit Kompass gerade mal im Gelände eine Richtung halten, so ich sie nicht mutwillig verlasse wie gestern. Und ich kann auch eine Richtung via Landkarte bestimmen. Allerdings kommt da gleich wieder das Problem der “Missweisung”. Da sich der magnetische Pol in Relation zu “Karten-Nord” Jahr für Jahr ändert, vor allem hier so weit nördlich, muss man diese Abweichung in die Kursbestimmung einberechnen. Das hab ich zwar schon einmal geübt. Aber das ist lange her.

Wie auch immer. Als ich gestern am höchsten Punkt meiner Wanderung stand, sah ich nicht das erhoffte Tal, sondern einen großen See. Das hätte ja auch noch gepasst, aber der See schien in die falsche Richtung abzufließen, konnte also nicht meiner sein. Und ich sah zwar etwas weiter unten eine Talfurche im steinigen Gelände, die die richtige sein hätte können.

Ich hätte also an die 100 Meter durch Blockhalden absteigen können, ohne zu wissen, ob sich da drunten ein gangbares Tal befindet (sowas kann man aus der Karte nicht herauslesen, dafür ist der Maßstab zu ungenau). Und ohne sicher zu sein, dass es wirklich “mein Tal” ist. Dazu kam, dass Nebelschleier über die Bergkuppen zu kriechen begannen. Was bedeutete, dass ich unter Umständen meinen Rückweg nicht würde finden können. Auch sah das Gelände vor mir ziemlich fremd und unübersichtlich aus. Also hab ich beschlossen umzudrehen. Ich war auch schon sehr müde. Immerhin war ich bereits 9 1/2 Stunden samt vollgepacktem Rucksack unterwegs.

Naja, und dann hab ich das Zelt bei der ersten guten Gelegenheit aufgestellt und bin todmüde in meinen Schlafsack gefallen. Ich bin auch gleich eingeschlafen, obwohl ich eigentlich noch den Akku meiner Batterie mit der Powerbank aufladen wollte.

Das Solarpanel hat sich übrigens wunderbar bewährt. Ein bis zwei Sonnenstunden reichen, um die Powerbank mit Hilfe des Solarpanels wieder voll aufzuladen. Und abends hänge ich dann Kamera oder Handy an die Powerbank und bin so energieautark. Fürs Notebook würde es vermutlich nicht reichen. Aber das müsste man ausprobieren.

Vielleicht noch eine Bemerkung zum Sandfjorden – so heißt hier heroben jeder Fjord, der einen Sandstrand hat, und sei er auch noch so klein. Oder grasüberwachsene Sanddünen. Mit anderen Worten, es gibt hier ziemlich viele Sandfjorde. Um sie auseinanderzuhalten, haben sie bisweilen Doppelnamen bekommen, so wie der Syltefjord-Sandfjorden neben dem Stauran. Etwas weiter nördlich, näher zu der alten und mittlerweile verlassenen Siedlung Makkaur an der Spitze der Halbinsel, liegt der Makkaur-Sandfjorden.

...

Gerade hab ich mir einen Mittagskaffee und einen Riegel gegönnt. Das Nebelmeer über dem Syltefjord steigt zunehmend höher und hat zum Teil schon die Gipfel auf der Hamningbergseite erreicht. Hier herüben sind die Gipfel höher, da wird es wohl noch eine zeitlang dauern, bis der Nebel auch hier um sich greift. Für mich mit ein Grund, dass es mich überhaupt nicht hinunter ins Tal zieht. Der Himmel ist zwischenzeitlich immer wieder teilweise mit Wolken bedeckt, mit einer dünnen, sehr hoch gelegenen Schicht. Aber die Sonne, oder der Wind, vertreiben sie immer wieder.

War gerade draußen “sky gazing”. Das ist eine bewährte spirituelle Praxis sowohl im Sufismus als auch im Bön Buddhismus. Du legst dich einfach auf den Rücken und schaust in den Himmel. Ohne zu denken oder zu reflektieren. Einfach so. Die Gedanken werden dann ganz still und verflüchtigen sich. Ein Gefühl von Offenheit, Weite, von kosmischen Dimensionen. Und die Wahrnehmung von Licht. Bald hast du den Eindruck, die ganze Luft flimmert von Licht.

Irgendwann bin ich aber einfach eingeschlafen. Gewärmt von der Sonne, begleitet vom Plätschern des Baches, gebettet auf meine wunderbar bequeme Luftmatratze . Ich genieße es so sehr, einen Tag lang einmal gar nichts zu tun außer zu faulenzen und die Sonne zu genießen.

Die Farben hier sind so wunderbar – dieses frische, dezente Grün, darin ein paar leuchtend weiße Wollgräser, die im Wind zittern. Die sanften Rundungen und Schattierungen der Berge, in warmem Hellbraun. In der Ferne die Berge vom anderen Fjordufer, leicht bläulich angehaucht. Und das intensive Blau des Baches, in dem sich der Himmel spiegelt. Das Blau des Himmels selbst ist dezent, perfekt abgestimmt auf diese Farbsymphonie.

 

21:00

Hab noch einen ausgiebigen Abendspaziergang gemacht und dabei die Gegend um den See 361 näher erkundet. Als ich gerade über den Abfluss des Sees auf die andere Seite geturnt bin, von Block zu Block hüpfend, hörte ich plötzlich ein seltsames Blöken. Als ich mich umdrehte, war da ein junger Rentierbock, einjährig, noch mit Pelz auf den Krickeln. Er war offenbar sehr neugierig, wer da auf zwei Beinen über die Steine turnte, denn er umrundete mich, schaute immer wieder her, kam bis auf 8-10 m zu mir, entfernte sich dann wieder etwas, kam wieder näher. Neugierig eben. Ich hoffe, ich hab auch ohne Tele ein paar schöne Fotos von ihm gemacht.

Ich machte mich dann auf die Suche nach jenem zweiten, kleineren See, der laut Karte hinter dem 361er liegen soll, vom Abfluss aus gesehen. Also turnte ich auf die andere Uferseite, ging dann über die Steinhalden bergauf, entdeckte ein ausgedehntes Sumpfgebiet, aber keinen zweiten See. Jedenfalls nicht dort, wo er meiner Meinung nach sein sollte. Dafür war der Blick übers Fjell im Abendlicht herrlich.

 

Ein junges Rentier blökt mich neugierig an

 

See 361 im Abendlicht

 

 

Mittwoch, 28. Juli 2021

 

Ich bin stinksauer. Was für eine Nacht! Zuerst ist mir im Zelt ein Kaffeehäferl umgefallen. Gottseidank hat sich der Kaffeee an einer Stelle gesammelt und nicht im ganzen Zelt verteilt. Aber meine Socken waren voll davon, meine lange Unterhose und ein Teil der Matratze. Also bin ich mit nackten Beinen hinaus in die Abendkälte und hab Matratze und Gewand gewaschen. Die Matratze hab ich dann so gut es ging trockengerieben und die Wäsche außen am Zelt aufgehängt. Zu dem Zeitpunkt, etwa 21:00, war draußen zwar bereits dichter Nebel (ja, das Nebelmeer vom Fjord ist auch hier heraufgekrochen), aber es regnete noch nicht.

Als ich dann schlafen wollte, war es so bitterkalt wie noch nie. Ich zog die Wanderhose an im Schlafsack, weil ich in den Beinen fror. Und oben fast alle Schichten, die ich hatte. Inklusive Daunengilet und Daunenjacke. Dann schnürte ich den Schlafsack bis auf ein kleines Atemloch ganz fest zu und fror trotzdem noch.

Als ich in der Früh aufwachte, sah ich, dass es geregnet hatte in der Nacht und immer noch nieselte. Und irgendwie hab ich im Moment sooo die Nase voll vom Camping. Gut, dass ich nicht übers Fjell in Richtung Båtsfjord gegangen bin. Das wäre nämlich jetzt sehr unangenehm.

 

19:00

Ich bin also wieder im Syltefjord-Sandfjorden. Und welche Überraschung! Als ich zur Küste hinunterkam, lag dort ein kleines Boot vor Anker. Und ich sah zwar keine Menschen in oder bei den Hütten. Aber bei der kleineren, unterhalb derer ich das letztemal gezeltet habe, stand die Tür zum Schuppen offen. Damit war klar, meinen prominenten Zeltplatz direkt bei der Brücke am Meer konnte und wollte ich nicht mehr benutzen. Genau denselben hätte ich sowieso nicht genommen, weil das den Pflanzen nicht gut tut, wenn sie zu lange niedergedrückt sind vom Zelt.

Nun habe ich also einen neuen Zeltplatz, nahe am Fluss, wegen Wasserholen und Morgenwäsche. Aber verborgen hinter einer Biegung, und etwas erhöht auf einer seitlichen Terrasse.

Der Tag heute war wettermäßig eigentlich ganz okay. Bis auf ein paar Spritzer in der ersten Tageshälfte (und damit meine ich wirklich nur ein paar Tropfen) war es den ganzen Tag trocken. Und die Sonne hat manchmal durchgeschimmert, ist dann wieder verschwunden. Am Nachmittag kam sie ein bissel kräftiger durch. Aber so wirklich Sonnenschein war nie. Der Wind war auch mäßig. Ein gutes Gehwetter also.

Eigentlich mag ich ja das Gehen um des Gehens willen! Ich liebe genau diese Mischung wie heute, aus grünen Matten, mit Steinen dazwischen. Manchmal Blockhalden, aber nicht zu viel davon. Zwei Furten, aber eigentlich harmlos. Und ein paar Bäche, über die ich auf Steinen im Wasser drübergeturnt bin. Und es gibt so viel Schönes zu sehen unterwegs. Die leuchtendweißen Wollgräser faszinieren mich immer wieder. Und das Wasser, wenn es so klar dahinfließt, im breiten Tal mäandert und sich auffächert, bei schmalen Stellen zu sprudeln beginngt und kleine Wasserfälle bildet. Ein paar Rentiere hab ich gesehen, und ein paar Schneehühner hab ich aufgeschreckt. Die Jungen können jetzt schon recht gut fliegen. Und je näher ich dem Strand gekommen bin, desto mehr reife Heidelbeeren und Multebeeren hab ich gefunden.

Jetzt hoffe ich, dass es in der Nacht hier nicht so kalt wird wie gestern. Meine nasse lange Unterhose hab ich gleich auf einer Leine aufgehängt und hoffe, dass sie im Wind etwas trocknet. Aber bis zum Schlafengehen geht sich das nie aus. Auch meine Socken werden wohl heute nicht mehr trocken. Aber bei denen hab ich ja Reserve. Vielleicht kann ich heute mit der kurzen Unterhose schlafen. Denn der Wanderhose täte es schon gut, wenn sie zwischendurch auslüften könnte.

Irgendwie freue ich mich jetzt schon sehr auf ein warmes Zimmer und eine Dusche. Andererseits denke ich mir, wer weiß, wie oft in meinem Leben ich noch so einen Zelturlaub machen werde. Die Unabhängigkeit und die Freiheit, die damit verbunden ist. Möglich ist es nur, weil es hier noch diese unberührte Natur gibt, und diese Einsamkeit. Und weil die Norweger das Jedermannsrecht hochhalten, das das Wildzelten erlaubt.

 

 

Donnerstag, 29. Juli 2021

 

Gerade habe ich die Zelttür wieder zugemacht, weil es zu nieseln begonnen hat. Irgendwie ist das schon ein ziemlich verregneter Sommer. Vielleicht fällt mir das aber auch deshalb so auf, weil ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr für längere Zeit hier im Zelt unterwegs war.

 

17:45

Und so ist es doch noch ein schöner Tag geworden! Eigentlich ähnlich wie gestern, trocken und bewölkt. Aber die Sonne immer irgendwo hinter den Wolken erahnbar. Ich bin dann oben übers Fjell zum Stauran gewandert. Und jetzt ist mir klar, es war nie gedacht, dass man unten am Meeresufer zum Stauran kommt. Es war also gut, dass ich damals umgedreht hab, bevor das Ganze eine wirklich riskante Kletterei geworden wäre. Oben sieht man auch immer wieder Steinmänner. Ich hab mich trotzdem hauptsächlich an der Klippenkante orientiert. Denn bei den Steinmännern war oft nicht klar, ob die jetzt irgendwelche Touristen hingebaut hatten, oder ob die wirklich den besten Weg zeigen.

Als ich bei Berg 204 angelangt war, der auch einen schönen Steinmann hatte, sah ich vier Adler über mir kreisen. Da dachte ich mir, wenn das nicht ein guter Hinweis auf den nahen Vogelfelsen ist! Ich blieb einige Zeit stehen und betrachtete die vier, wie sie sich mit dem Wind langsam in die Höhe schraubten und gleitend ihre Kreise zogen. Dann wieder tiefer gingen. Wenn man sie von oben sah, konnte man einen Fächer weißer Federn beim “Stoß” sehen, wie der Schwanz heißt. Und da hatten sie eine braune Farbe. Gegen den Himmel sahen sie ganz schwarz aus, mit weit gespannten Flügeln, die gefächerten Federn wie gespreizte Finger an den Flügelenden.

Und dann sah ich, wie einer der vier einen zweiten immer wieder attackierte. Er flog ihm in die Flugbahn. Manchmal trudelten die zwei wie bei einem Tanz gemeinsam einige Meter in die Tiefe, bevor sie sich wieder erfingen und davonzogen. Ob der eine den anderen vertreiben wollte? Denn für einen Paarungstanz passt mit Ende Juli die Jahreszeit nicht. Um diese Zeit sollten die Jungen längst flugtauglich sein.

Hinter dem 204er Berg war dann eine Senke, wo es wie vermutet zum Stauran hinunterging. Genauer: zur Klippenkante, von wo aus man gut auf die Vogelklippe hinunterschauen konnte. Zuerst sah ich allerdings die von mir aus gesehen linken Klippen, mit wenig Möwen, jedoch Spuren von weißen Vogelkotstriemen. Die Felsformationen waren schön anzuschauen. Aber Vogelfelsen? Da sollte doch mehr zu sehen sein. Und dann sah ich ihn rechts unten, einen nicht allzu großen Felsen, der sich wie ein runder Buckel aus dem Wasser erhob. Und der war tatsächlich voll von Möwen. Dort nisteten sie, flogen immer wieder in Schwärmen auf, stießen ihre typischen monotonen Klagelaute aus. Und die Adler waren auch wieder da, nun waren es sogar sechs Stück. In solchen Momenten bedauere ich es, kein Teleobjektiv zu haben.

 

Die Vogelklippe Stauran

 

Als ich dann zurückkam vom Fjell, sahe ich bei der größeren der beiden Hütten tatsächlich Leute. Offenbar eine Mutter mit ihrem etwa achtjährigen Sohn, die irgend etwas spielten. Das Kind rief “Mama!”, als es mich sah. Ich winkte dem Jungen zu, aber er winkte nicht zurück. Bei der anderen Hütte, wo gestern die Schuppentür offen stand, sah ich heute kein Lebenszeichen. Das Boot lag immer noch in der Bucht vor Anker.

Auf dem Heimweg zu meinem Zelt hatte ich dann noch eine schöne Begegnung mit einem Rentierbock. Er hatte ein stattliches Geweih und war gerade dabei, von der drüberen Flussseite herüber zu furten. Er bemerkte mich bald, machte aber keine Anstalten zu fliehen. Wenn ich ihm zu nahe kam (er bewegte sich genau in Richtung Zelt), ging er würdevoll ein paar Schritte weiter, sah sich nach mir um und fraß weiter.

 

Begegnung mit dem Rentierbock

 

 

Freitag, 20. Juli 2021

 

Ein verrückter Tag ist das heute. In der Nacht und in der Früh hat es geregnet. Dann haben Regenschauer mit kurzen Sonnenabschnitten gewechselt. Zu dem Zeitpunkt bin ich zur heutigen Drei-Seen-Wanderung aufgebrochen. Eigentlich hoffte ich, dass diese drei Seen, die auf der rechten Oberkante des Sandfjordelvdalen aufgefädelt liegen, einer über dem anderen, wobei der dritte ziemlich genau an der Wasserscheide platziert ist, dass mich dies drei Seen also zum Oberlauf jenes Baches führen würden, der auf der drüberen Seite hinunter zur Russevika führt. Die auf der anderen Seite des Stauran liegt und quasi eine Nachbarbucht von dieser hier ist. Und von der Russevika hoffte ich über den “Klubbespiret” genannten Felsriegel am Meer klettern zu können, weil dahinter offenbar ein langer, breiter Strand liegt. Und ich liebe Strände, so wie etwa jener in der Tømmervika. Dort gibt es immer wieder etwas zu sehen, zu entdecken und zu bestaunen.

Der Aufstieg zum ersten der drei Seen erfolgte entlang des zweiten Querbaches, der auf der rechten Seite in den Sandfjorddalselva mündet. Er begann nett, mit einer harmlosen Furt über den Fluss, weil ich nicht hinunter zur Brücke gehen wollte. Drüben hab ich dann viele Heidelbeeren und einige reife Multebeeren gefunden. Der erste See, der nicht einmal eine Höhenangabe auf der Karte hat, liegt recht schön. Foto hab ich allerdings keines gemacht, weil es da zu nieseln begann. Das Gelände führte mich quasi von selbst weiter zum zweiten See, obwohl es keinen sichtbaren Wasserlauf zwischen den beiden gibt, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit. Bei der Schneeschmelze könnte ich mir vorstellen, dass das anders ist. Beim zweiten See, der 221 m hoch liegt, sah ich dann zwei Steinmänner, die von der Größe und Bauart her alt aussahen. Und damit meine ich, dass sie aus einer Zeit stammen, wo die Menschen hier in der Gegend damit wirklich noch wichtige Wegzeichen setzen wollten.

Der Übergang von See 221 zu See 241, dem dritten auf dieser Wanderung, war recht angenehm zu gehen, Wiesenmatten mit Steinen dazwischen. Doch nun sah ich ringsum, wie der Himmel immer düsterer wurde, und die Regenschleier immer dichter heranrückten. Und der Regen wurde kräftiger.

Entlang von See 241 begann dann eine “schiache Kräulerei” über Felsblöcke in allen Größenordnungen. Damit muss man hier ja immer und überall rechnen. Aber da oben begann dann auch meine rechte Ferse heftiger zu schmerzen. Die unglaubliche Universalsalbe scheint leider unglaublich wirkungslos zu sein. Was nun nicht wirklich eine Überraschung ist. Ich hab mir dann den Fuß massiert und anschließend den rechten Schuh etwas lockerer geschnürt. Das half ein bissel. Und ich bin halt sehr langsam und bedächtig gegangen.

Als ich mich endlich zur anderen Seite von See 241 durchgekämpft hatte, sah ich tatsächlich den oberen Teil jenes namenlosen Tals, das in die Russevika hinunterführt. Aber es war voller Steine, kein bisschen Grün. Und laut Karte war es weiter unten auch eng und steil. Mag sein, dass irgend jemand schon einmal entlang dieses Baches zur Küste hinuntergekommen ist. Ich jedenfalls hatte überhaupt keine Lust auf eine solche Steinturnerei.

Ich machte mich also auf den Rückweg. Und nun liege ich im Zelt. Manchmal kommt ein Hauch Sonne durch. Genug jedenfalls, um mein Solarpanel zu füttern. Und ich hab mir im Zelt einen warmen Kaffee und Tee gemacht. 

 

 

Samstag, 31. Juli 2021

 

Gerade als ich meine Tür geöffnet hatte, um den Frühstückskaffee und -tee zu kochen, begann es zu tröpfeln. Und jetzt regnet es ganz schön kräftig. Fürs Zelt abbauen und verstauen ist das nicht gerade ideal. Ich erwäge, mir vielleicht in Nordfjord ein Zimmer zu nehmen, wenn das möglich ist.

Eigentlich schaut es hübsch aus, wenn die Tropfen außen auf der Zelthaut sitzen und durchschimmern. Gerade hat ein Weberknecht versucht, sich seinen Weg durch diese Tropfen zu bahnen. Das war nicht ganz einfach. Er ist immer wieder etwas zusammengeknickt. Aber schließlich hat er es bis zum (geschlossenen) Reißverschluss geschafft, wo ich ihn aus den Augen verloren habe.

Heute hat es wirklich den ganzen Tag dauergeregnet. Und ich hab beschlossen, jetzt ist es genug. Um ca. 14:00 war ich in Nordfjord/Syltefjord und hab dort nach einem Zimmer gefragt. Es gab aber keins. Die ältere Dame, die dort das Kaffeehaus führt, war aber sehr nett. 5 km weiter gäbe es Hütten zu mieten, sagte sie. Ich meinte, da würde ich lieber mit dem Taxi nach Båtsfjord fahren und es dort versuchen. Das sei aber teuer, meinte sie. Ich solle doch lieber Autostoppen. Von denen, die hier im Kaffeehaus säßen, würde heute leider keiner nach Båtsfjord fahren. Die kenne sie alle. Ich bedankte mich und ging hinaus in den Regen. Und hatte keine Lust, auf unbestimmte Zeit an der Straße zu stehen und mein Glück zu versuchen. Also rief ich doch ein Taxi. Kostenpunkt ca. 1100 NOK, was umgerechnet in etwa 110 Euro entspricht. Und fuhr zum Båtsfjord Brygge, wo tatsächlich noch eines dieser kleinen Zimmer mit Dusche und Clo am Gang frei war.

Nach einer gründlichen warmen Dusche hab ich um ca 16:00 hier im Restaurant gegessen. Über 300 NOK, aber köstlichst! Gegrillter Dörrfisch mit gegrilltem Gemüse und Tomaten-Paprika-Sauce auf Kartoffelpüree. Und alles aufs Feinste zubereitet und gewürzt. Ich denke, wenn ich in den vergangenen drei Wochen nichts als Riegel und Turmat gegessen habe, kann ich mir's jetzt auch gut gehen lassen und das Essen hier genießen.

 

Ich verbrachte dann noch ein paar Tage in Båtsfjord zum Ausklingen, bevor ich nach Hause flog.

 

Blick vom Batsfjorder Hafen auf den Gazzabealčohkka

 

Die Hurtigrute verlässt Båtsfjord auf der Reise nach Süden