In den Fußstapfen des Shaykh al-Ishraq

 

Der folgende Text ist ein Artikel, der im Sufimagazin "Heart&Wings" im Frühjahr 2008 erschienen ist. Er erzählt von einer Reise, die ich damals mit meiner Freundin zu Suhrawardis Dargah (Grab) in Aleppo/Syrien machte. Seither hat sich dort viel verändert. Ein paar Jahre später trafen wir Scheich Jamal, der mit seiner Familie wegen des Bürgerkriegs in die Türkei geflohen war, in Istanbul. Er konnte uns nicht sagen, was aus Omar, dem Betreuer der Moschee, geworden ist, und er wusste auch nichts über den gegenwärtigen Zustand der Moschee und der Dargah des Shaykh al-Ishraq.

 

 

Zwei österreichische Mitglieder des Internationalen Sufiordens (heute Inayatiyya, Anm.) besuchten die Dargah von Shihab al-Din Yahya al-Suhrawardi, dem großen Meister des Lichts, in Syrien. Hier ist ein Bericht über ihre Erfahrungen mit der lokalen Gemeinde.

"An einem Freitag nach dem Gebet am Ende von Dhu'l Hijja 587 (Jänner 1192, Anm.)) wurde al-Shihab al-Suhrawardi tot aus dem Gefängnis von Aleppo herausgetragen, und seine Schüler zerstreuten sich." Mit diesen schlichten Worten beschreibt der Historiker Ibn Khallikan den Tod des Shaykh al-Ishraq.¹ Wir wissen nicht, wer diese Schüler waren. Wir wissen nicht einmal genau, auf welche Weise dieser große Sufi-Heilige starb. Einige berichten, dass er wegen seiner mutigen, brillianten und unkonventionellen Lehren geköpft wurde. Andere berichten, dass er ins Gefängnis geworfen wurde und sich dort zu Tode hungerte. Doch eines ist sicher: Shihab al-Din Yahya al-Suhrawardi hatte einen entscheidenden Einfluss auf den Sufismus und die islamische Philosophie bis in unsere Tage. Er hatte auch großen Einfluss auf die Lehren von Hazrat Inayat Khan. Pir Zia: "Der Shaykh al-Ishraq war sehr speziell. Er war nicht Teil einer bestimmten Silsila, er gewann seine Weisheit durch den Kontakt mit großen Propheten und Philosophen auf der Ebene von Hurqalya, der Ebene der kreativen Imagination."

Am 24. Dezember 2007 besuchen meine Freundin Ursula V. und ich jenen Ort in Aleppo/Syrien, wo Suhrawardi vor rund 800 Jahren begraben worden ist. Die Überreste der alten Stadtmauer sind immer noch sichtbar im Graben auf der anderen Straßenseite vor dem imposanten Sheraton Hotel. Doch die Felder außerhalb des Walls sind vor langer Zeit verschwunden und haben Platz für das christliche Viertel gemacht. Die Dargah ist nun Teil einer kleinen Moschee an einem Seiteneingang des Polizeihauptquartiers.

Wir fragen einen der bewaffneten Polizisten, der den Verkehr regelt.

“Yahya Suhrawardi? Shaykh al-Ishraq? Nie von ihm gehört.”

Doch gleich um die Ecke, in der kleinen Salibeh Straße, finden wir ein schlichtes Schild und die unauffällige grüne Tür der Moschee. Sie ist geschlossen. Man sagt uns, dass wir auf den Muezzin warten müssten, der innerhalb der nächsten halben Stunde kommen wird.

Das Äußere des Gebäudes ist hässlich. Doch wenn du es betrittst, findest du einen erstaunlich ruhigen, schönen Raum, erfüllt mit einer starken, licht- und liebevollen Atmosphäre. Die Atmosphäre ist so angenehm, dass du Kleinigkeiten wie die desolate Decke, die Flecken an der Wand und die weißen Plastiksessel rund um die Grabstelle vergisst. Die Präsenz des Shaykh al-Ishraq ist überwältigend.

 

Die enge Salibeh Straße, die zum Eingang der Moschee in Aleppo führt

 

Die Moschee ist nur für Männer. Wir haben Glück, dass wir vor dem Morgengebet gekommen sind, das normalerweise spärlich besucht ist. Und es ist gut, dass wir als erstes Omar Khadim, den Muezzin, getroffen haben. Er ist derjenige, der die Moschee vor den Gebetszeiten aufsperrt, die Moschee reinigt und sich um frische Luft und Heizung und den Zustand des Ortes generell kümmert. Er spricht nur Arabisch, wie die meisten Syrer:innen, was die Kommunikation erschwert. Aber er ist ein sehr liebevoller und offenherziger Mann, die Seele dieser kleinen Moschee. Er lässt uns hinein und vor und nach der Gebetszeit vor dem Grab sitzen. Und als er merkt, dass wir jeden Tag kommen, beginnt er früher zu kommen und scheint sich wohlzufühlen dabei. Irgendwie haben wir das Gefühl, als ob der Ort jeden Tag sauberer und wohlriechender würde.

 

Suhrawardi's Dargah (Grab) innerhalb der Moschee

 

Aber zwei Frauen in einer Männermoschee bleiben nicht unbemerkt, auch wenn wir während des Gebets immer auf den Balkon hinaufgehen. Jeden Tag kommen mehr Männer zu den Morgengebeten; einige schauen freundlich drein, andere grimmig. Am vierten Tag sprechen uns zwei Männer in gebrochenem Englisch an. Ob wir denn wüßten, wer in diesem Grab liege? Ja, das wissen wir. Das überrascht sie sichtlich, dennoch insistieren sie darauf, dass Frauen in dieser Moschee nicht erlaubt seien. Omar versucht uns zu verteidigen, sodass wir nicht unmittelbar hinausgeschmissen werden. Doch es ist klar, dass diese Männer (einer davon leitete das Gebet) unsere Anwesenheit nicht länger tolerieren würden. Wir beschließen, mit dem spirituellen Leiter dieser kleinen Gemeinschaft, Scheich Jamal Hoot, Kontakt aufzunehmen.

Omar erzählt uns, dass der Scheich nur den Nachmittags- und Abendgebeten beiwohnt. Und er führt uns in ein kleines Copy Shop in der Nähe. Der Besitzer ist ein enger Freund und offensichtlich auch Schüler von Scheich Jamal. Er organisiert einen Übersetzer, der auch mit Scheich Jamal befreundet ist, und bald erscheint auch der Scheich selbst.

Es ist ein delikater Moment. Pir Zia hatte uns ermuntert, Wege zu finden, wie wir den Zustand der Dargah verbessern könnten. Dies konnte nur in Kooperation mit der lokalen Gemeinde geschehen. Doch wie konnten wir unser Interesse am Shaykh al-Ishraq und am Zustand der Dargah vermitteln, ohne als überhebliche europäische Besserwisserinnen zu erscheinen? Wir wählen unsere Worte sehr sorgfältig. Glücklicherweise scheint der Scheich ein offenherziger Mann zu sein. Und er erinnert sich offenbar sehr gut an den Besuch von Zumurrud, unserer spirituellen Lehrerin. Sie hatte Suhrawardis Dargah vor sieben Jahren besucht und offenbar einen exzellenten Eindruck bei Scheich Jamal hinterlassen.

Er lädt uns zum Abendessen in ein Restaurant ein und scheint sehr interessiert an unserem Sufiorden zu sein. Er fragt uns über unsere Sufitreffen zu Hause. Und als er hört, dass wir immer mit einer Invokation beginnen, will er diese Invokation Wort für Wort übersetzt haben. Er erzählt uns auch über Adab (Respekt, Anm.), Sterben vor dem Tod, und die Bedeutung von Liebe und Hingabe. Zwischendurch wirft sein Übersetzer Bemerkungen ein wie "Gott war vielleicht eine Sie und kein Er, wer weiß?"

An diesem Abend begleiten wir den Scheich zum Abendgebet in der Moschee, und Omar strahlt vor Freude und Stolz, als er uns sieht. An diesem Tag sind wir auch nicht die einzigen Frauen auf dem Balkon. Plötzlich erscheint eine andere Frau und betet mit uns. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Kunde über unsere Präsenz verbreitet hat.

Nach einer Pause von drei Tagen, die wir in Damaskus verbracht haben, folgen wir Scheich Jamals Einladung, ihn wieder in der Moschee zu treffen. Doch nun folgt eine unangenehme Überraschung. Wir dürfen nicht mehr auf dem Balkon sein. Stattdessen werden wir während des Gebets in einen kleinen, eher hässlichen Raum gebeten – nicht durch den Scheich, aber durch einige seiner Männer. Von nun an müssen wir immer in diesen kalten, isolierten Raum gehen. Allerdings erlaubt uns unser Freund Omar immer noch, vor dem Grab zu sitzen, wenn die Moschee leer ist.

 

Dies ist das unfreundliche, kalte "Frauen-Zimmer" in der Moschee

 

Wir können nur Vermutungen anstellen, doch es scheint so, als habe es in unserer Abwesenheit Diskussionen über Frauen in der Moschee gegeben. Die Männer wissen, dass wir bald abreisen werden. Doch es ist zweimal passiert, dass unsere Anwesenheit andere Frauen in die Moschee gelockt hat. Uns in einen separierten Raum zu lotsen, scheint ein Kompromiss zwischen den Hardlinern und den Toleranten zu sein – wir dürfen zum Gebet kommen, sind aber außer Sichtweite der Männer. Scheich Jamal bleibt freundlich wie immer und wartet nach dem Gebet vor der Moschee auf uns, lädt uns in sein Haus ein und stellt uns seiner Familie vor.

An unserem letzten Tag in Syrien ladet uns Scheich Jamal zu einem Essen in der Moschee ein, in dem hässlichen, kleinen "Frauen-Zimmer", das auch eine Kochecke enthält. Wir sitzen mit seinen engsten Schülern zusammen; einer von ihnen ist der Mann, der uns aus der Moschee werfen wollte. Nun serviert er uns Essen und schiebt uns die besten Stücke in unsere Essschalen. Auch ein Gast aus Russland ist da. Diesmal haben wir einen Laienübersetzer, was die Kommunikation schwieriger macht. Wir verstehen nur Teile von dem, was der Scheich sagt. Er scheint über verschiedene Nationalitäten und die Bedeutung von Toleranz zu sprechen. Dann spricht er Gebete und ruft einige Gottesnamen an. Wir tauschen Geschenke aus und bekommen ein paar Gaben vom Scheich und seinen Anhängern – hauptsächlich Gewürze und syrische Süßigkeiten. Er gibt uns auch ein Geschenk für Zumurrud und äußert großes Bedauern, dass er uns kein Geschenk für Pir Zia mitgeben kann. Und er betont immer wieder, dass jedes Mitglied unserer Organisation in seinem Heim willkommen sei. Wenn jemand nach Halab (der einheimische Name für Aleppo, Anm.) käme, auch Gruppen von fünf bis zehn Leuten, sollten sie nicht in ein Hotel gehen, sondern seine Gäste sein.

Hiermit übermittle ich seine Worte, in der Hoffnung, dass dies die Saat für eine wachsende Freundschaft zwischen Ost und West sein möge. Und möge Pir Zias Wunsch erfüllt werden, dass wir etwas für diesen besonderen Ort tun können, an dem Shihab al-Din Yahya al-Suhrawardi begraben ist. Zu Ehren des Shaykh al-Ishraq, der uns ein solch bedeutendes Erbe hinterlassen hat.
 

Ingrid Nurunnahar Dengg

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¹) John Walbridge, The Leaven of the Ancients, Albany/N.Y. 2000, p. 211.